Was es wiegt, das hat’s XXXIX: Öffentlicher Raum

(Beiträge und Fragen zu einer nächsten Kulturpolitik)

In all den vergangene Jahren lautete eines meiner bevorzugten Mantras, daß der öffentliche Raum jener sei, wo wir ihn durch leibliche Anwesenheit zu einem politischen Raum machen. Das meint: reale soziale Begegnung und Diskurs. Das schließt die Substituierung solcher politischer Praxis durch Telepräsenz und Telekommunikation aus.

Der öffentliche Raum ist genau das: öffentlich, und ist überdies ein politscher Raum nur dann, wenn wir uns dort in realer sozialer Begegnung treffen können. (Diese Auffassung steht in der Tradition von Pnyx und Agora in der Antike.) Öffentlicher Diskurs ist dabei unverzichtbarer Bestandteil solcher Verhältnisse.

Das illustriert mein Faible für Inhalte, Inhalte, Inhalte. Allerdings bin ich völlig frei von prophetischen Gaben. Es kam aber bisher öfter vor, daß ich plötzlich sagen mußte: „Das habe ich nicht kommen gesehen!“ Es gibt bei unseren Leuten eine Marotte, jemanden im Rückblick als Propheten oder Visionär zu bezeichnen. Das ist genau die Art von Verehrung, mit der man vor allem sich selbst lobt: „Ich weiß wen, den sollte man schätzen, so schlau bin ich!“ Visionen!

Wer immer in der Kunst lebt und sich mit Kulturpolitik befaßt, hat natürlich laufend Visionen. Aber das ist keine Medjugorje-Nummer, wo einem wer im Strahlenkranz erscheint oder wo dann an einer Wand flammende Zeichen hervortreten.

Ich rede von Annahmen, die man mit seinem Verstand und seinen Emotionen bearbeitet. Das führt zu Einschätzungen und Erwartungen, die sich teils rational mitteilen, teils ein Gefühl sind. Ich könnte als Künstler nicht leben, wäre ich darin unterbemittelt. Aber das ist banal, so banal, wie der Umstand, daß jede gute Ärztin, jeder vorzügliche Handwerker, jede versierte Wissenschafterin auch über solche Kompetenzen verfügt, um einen guten Job zu machen.

Mit all diesen Talenten, Ausdruck unserer Fähigkeit zu symbolischem Denken, gelingt mein Leben a priori nicht besser als das Leben anderer Menschen. Aber ich mag die Tiefe und die Relevanz, die ich dabei finde und so gut wir täglich verspüre.

Wir leben in unruhigen Zeiten und mich erreicht neuerdings eine spezielle Unruhe, die ich noch nicht genau identifizieren kann. Es gibt da dieses Grundgefühl, welches der Informatiker Hermann Maurer, mit dem ich seit Jahren Kooperationsschritte setze, ganz treffend so zusammengefaßt hat: „Wir haben zu wenig Phantasie!“

Maurer, ein unbremsbarer Emeritus mit einem gewaltigen Wissensdurst, der in ihm tobt, als wäre des Menschen Müdigkeit noch nicht erfunden worden, präzisierte das so: „Vieles, was vorhergesagt wurde, ist nicht gekommen. Vieles was gekommen ist, wurde nicht vorhergesagt.“ (Siehe dazu meine Notiz „Zukunftsfähigkeit fällt nicht vom Himmel“!)

Das sagt eigentlich in anderen Worten: „Wir irren uns nach oben“, mit dem – wenn ich mich recht erinnere – der Astrophysiker Harald Lesch zusammenfaßte, was ein Wissenschafter tue.

Dazu passend: im Jahr 2001 hatte ich Michael Narodoslawsky vom Institut für Prozess- und Partikeltechnik (TU Graz) bei einer meiner laufenden Konferenzen zu Gast. (Es ging unter anderem um die Frage, was öffentlicher Raum sei.) Narodoslawsky leitete ein:

„Erste Aussage ist einmal: Wissenschaft hat nichts mit Wahrheit zu tun.“
„Wir versuchen da, was die Leute vor uns gefunden haben, zu widerlegen.“
„…was bedeutet, daß das, was wir heute finden, mit Sicherheit falsch ist.“
„Was haben wir gemacht? Wir haben von Nichtwissen auf Wissen geschlossen.“
Dazu weitere Details in den drei kleinen Tondokumenten: [link]

Es ging, wie erwähnt, auch um die Frage was und wo der öffentliche Raum sei. Ein Fazit von Narodoslawsky: „Dort, wo (diese) Probleme diskutiert werden, ist der öffentliche Raum.“ (In jener Debatte findet sich übrigens auch meine wiederholte Berufung auf Emile Zola.) Einige Jahre davor, nämlich 2007, hatte ich mehrere Gespräche mit dem bosnischen Autor Dzevad Karahasan. Ich zitiere aus einer meiner Notizen:

„Vergangenheit ist immer da. Es sei denn, du hast sie wirklich kritisch verstanden und artikuliert zu einem Bestandteil deiner Tradition und Kultur gemacht.“ Kultur ist also nicht das, was einem durch das Verrinnen der Zeit einfach zufällt, sondern ergibt sich aus einem vorsätzlichen Tun, aus der Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist. „In unserer Zeit wird Kultur auf Zivilisation reduziert. Also Juristerei und Bequemlichkeit. Aber das ist eine verdammte Fälschung. Kultur ist am wenigsten das.“ [Quelle]

Wozu erzähle ich das? Wir, die Origami Ninjas, haben eine Situation! Wer wir? Das kulturpolitische Kompetenz-Duo Martin Krusche (Autor) & Oliver Mally (Musiker). Wir müssen dieser Tage neu entscheiden, welche Balance wir zwischen Kunstpraxis und Kulturarbeit herstellen wollen, speziell den kulturpolitischen Diskurs betreffend.

Die Kunst muß nichts müssen, hat keine zwingenden Aufgaben außerhalb ihrer eigenen Bezugs- und Referenzsysteme. Aber wir sind auch Bürger dieses Landes und politisch anwesende Personen, die den öffentlichen Raum als politischen Raum verstehen. Beide Sphären, die der Kunst und die des politischen Lebens, verlangen Zuwendung. Wir wenden. Uns. Zu.

— [The Long Distance Howl] —

Credits: Beide Fotos stammen Oliver Mally. Das zweite zeigt ihn mit Peter Schneider am 9.10.2021 im JuThe (Judenburger Theater in der Mauer).

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Kulturpolitik, Reflexion und Grundlagen abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.