Die gesuchte Komplexität

Graphic Novelist Chris Scheuer sagt: „Wenn ich es nicht verstehe, dann hab ich es noch nicht gezeichnet.“

Chris Scheuer und Jimi Hendrix

Das mag auf Anhieb verblüffen. Aber das „Cogito“ von Descartes hat seinerzeit zu kurz gegriffen. Der Philosoph mag gewußt haben, daß wir nicht bloß in Worten, sondern auch in Bildern denken. Sehr viel später konnten die Kognitionswissenschaften klären, daß auch der Körper bei all diesen Prozessen intensiv mitwirkt. (Nein, nicht im Sinn von einer Art der leiblichen Erkenntnis-Gymnastik.)

Es ist unsere Körperchemie, die Aufschluß gibt. Dank bildgebender Verfahren kann man sichtbar machen, in welchen Gehirnregionen diese oder jene Neuronen-Ensembles feuern, wenn wir dies oder das tun. Sie ahnen es? Unsere Emotionen, die wir ja körperlich spüren, sind unter anderem Ausdruck intensiver innerer Vorgänge, die uns zu Schlußfolgerungen bringen, unsere Handeln beeinflussen. Aber ich schweife ab.

Fotograf Richard Mayr

Mich beschäftigt seit einiger Zeit, was es mir bedeutet, daß ich mich mit Menschen näher befasse, die in verschiedenen künstlerischen Genres aktiv sind und dabei natürlich auch rationale Arbeit leisten, in Sprache denken, aber für ihr Tun noch ganz andere Quellen und Verfahrensweisen nutzen.

Das Interdisziplinäre
…unterscheidet sich kategorial vom Multidisziplinären. Wir sind keine Ansammlung unterschiedlicher Talente, sondern wir sind auch in der Lage, die jeweils anderen Kompetenzlagen zu nutzen.

Wissenschafter Hermann Maurer

Mit Wissenschafter Hermann Maurer, einem erfahrenen Informatiker, habe ich zwar öfter technische Angelegenheiten zu bereden, aber unser eigentliches Thema sind Möglichkeiten des Erzählens mit Internetstützung. Erzählen im Web. Content wird digitalisiert und online zur Verfügung gestellt. [Krusche in der NID-Bibliothek.]

Da hat mir Maurer mit den Networked Interactive Documents (NID) eine neue technische Möglichkeit zur Verfügung gestellt. Dabei nützt es, daß ich in einem Mindestmaß verstehe, was sich unterhalb der Benutzeroberfläche tut. (Praktischerweise komme ich aus der frühen PC-Ära, wo wir noch alle auf der Kommandoebene unterwegs waren. Sagt Ihnen nichts? Ist ohnehin Historie.)

Bildwelten
Monika Lafer ist zum Beispiel als Malerin sehr gerne ganz im Außersprachlichen und dabei oft auch in der freien Natur; und zwar genau deshalb: um damit rational geordneten Geselligkeiten mit ihren überschaubaren Aussagen und auch manchen Einflüsterungen zu entkommen.

Künstlerin Monika Lafer

Andrerseits begibt sie sich als Kunsthistorikerin immer wieder auf die Metaebene. Da geht es vor allem sprachgestützt zu, läuft vieles auf konkrete Aussagen hinaus. Nun dient ein Modus sicher nicht unmittelbar dem anderen (hierarchisch geordnet), sondern jeder hat für sich Bestand. Aber man erwirbt in der einen Praxis Kompetenzen, die einem in der andren Praxis dienlich sind.

Heinz Payer: „am kantigen ufer“ [GROSSE ANSICHT]

Chris Scheuer erschließt für sich Themen also über das Zeichnen und findet so Erkenntnis. Eine starke körperliche Instanz, denn ohne das Werk der Hände würde aus diesen Optionen wohl nichts. Fotograf Richard Mayr kann Landschaften lesen uns äußert sich mit Bildern, wo ich sprachliche Aussagen mache. Ich hab davon eben erst in „Meta: Gefieder“ erzählt. Ich notierte:

„Da man mit der Natur nicht verhandeln kann und fast nichts darin still hält, ist es ohnehin nötig, sich mit ihr auf grundlegend andere Art ins Einvernehmen zu setzen, als mit einer Statue oder einem Palais. Eine Kommunikation auf sinnlicher Ebene. Nicht bloß über das Hören und das Sehen. Auch was einem der Boden mitteilt, wenn man in dieses oder jenes Gelände hineingeht. Was an einen herankommt, was man streift…“ [Quelle]

Ich wette, Lafer kennt das ebenfalls und Scheuer sowieso. Inzwischen bin auch ich genau darin erfahrener als je zuvor und meine wachsende „Matrix der Gewässer“ saugt mich geradezu ein. Dort mache ich hauptsächlich sinnliche Erfahrungen. Das Rationale konzentriere ich dann in der komplementären „Peripherie der Gewässer“.

Dialogisches
Mit Künstler Heinz Payer erlebe ich seit geraumer Zeit einen permanenten Dialog, der davon handelt, daß er als Zeichner oder Maler auf meine Texte reagiert. Er kommt also über die Linien oder aus den Farben, wenn er antwortet. Dabei pflegen wir keine Kommunikation über die Kommunikation, sondern das läuft ohne weitere Absprachen und jeweils sehr spontan. (Es hat etwas von Call and Response in der Musik.)

Künstler Heinz Payer

Oder ich denke über Musiker Sigi Lemmerer nach. Der ist nicht bloß ein Virtuose, wenn er zu einem seiner Instrumente greift. Er ist in der Musik, wenn er an manchen Problemen und Aufgaben arbeitet. Dazu weiß er eine Menge über Strukturen der Musik, über komplexe innere Vorgänge der Musikstücke. Wir setzen uns darüber auseinander. Es muß all das dann freilich auf die Textebene.

Natürlich kann Lemmerer auch Text. Und zwar zum Beispiel auf folgende Art, wie er mir kürzlich schrieb: „Diese Texte kullern aus mir heraus, weil die musikalische Syntax das evoziert. Das Begnadetste, was wir im Leben machen können ist, Dinge zu tun und zu formulieren, die andere nicht tun können, weil sie keine Zeit, kein Talent oder nicht unser Glück haben!“ (Siehe zu Lemmerer auch: „Steirer-Blues”, ein Dialog!)

In der Kunst leben
Treffender könnte ich nicht zusammenfassen, was es bedeutet, in der Kunst zu leben, seinen Obsessionen nachzugehen und dabei aus all diesen Quellen zu schöpfen. Denn der Punkt ist, auch wenn ich kein Maler bin, kein Fotograf, kein Musiker, sondern ein Homme de Lettres, schöpfe ich ebenfalls aus diesen Quellen. In einem gewissen Sinn bin ich das doch alles, bloß nicht auf diesem elaborierten Niveau wie Lafer, Lemmerer, Maurer, Mayr, Payer und Scheuer in ihren Domänen.

Musiker Sigi Lemmerer (Foto: Christoph Huber)

Diese Art der Verbundenheit beschäftigt mich gerade sehr und ich bin bemüht, das in einer Verfahrensweise der Netzkultur wirksam zu machen, umzusetzen. Ich hab anläßlich einiger gemeinsamer Arbeitsschritte mit Richard Mayr dieser Tage „Netzkultur: Ebenenwechsel nach Wahl“ formuliert. Eine mögliche Verfahrensweise.

Das ist sozusagen ein Proto-Modus, den ich mit anderen Kräften noch verfeinern will. Mit Monika Lafer hat sich das grade über „Vol. 29: Das Fenster“ im Gleisdorfer „Zeit.Raum“ einen weiteren Schritt verdichtet.

Krusche by Payer

Zum Grundsätzlichen gehört aber ferner, was ich in „Meta: Was tut ein Schriftsteller?“ zusammengefaßt hab. Natürlich gibt es unabhängig von all dem einige Formen meiner Kunstpraxis, die nur sich selbst verpflichtet sind, wie zum Beispiel: „Lyrik | Eine laufende Erzählung“.

Nein, ich neige nicht zum Thema „Gesamtkunstwerk“. Ich bin auch an einer so antiquierten Kategorie wie „Universalkünstler“ nicht interessiert. (Das scheint mir heute eher eine Spießerkategorie zu sein.)

Mich bewegt eine Vorstellung von prozeßhafter Wissens- und Kulturarbeit, bei der ich mit anderen Kräften in einem laufenden Austausch stehen kann.

Das hat Aspekte von Konzeptkunst, ohne dabei in die Optionen der anderen Beteiligten in meinem Bezugsfeld einzugreifen. Und es handelt davon, daß wir selbst sagen, was es ist; mit den jeweils bevorzugten Mitteln. Das ist eine Frage der Definitionshoheit.

Übersicht
+) Tesserakt (Projekt)
+) Meta (-ebene)
+) Netzkultur (Dokumentation)
+) Ein Booklet: „Gefieder“ (Band #1) von Richard Mayr

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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