Neunzehn: Eine Autonomiefrage

Das neunzehnte Jahr macht klar: wenn sich Spießbürger als Rebellen verkleiden, soll alles bleiben wie es ist. Aber so ist alles eben nicht. Alles verändert sich laufend. Und die Zahlen… Ich hab bisher noch kaum darüber nachgedacht. Zehn Jahre sind nicht 2010 bis 2020, sondern 2010 bis 2019. Das heißt auch: fünfzig Jahre sind 1975 bis 2024. (Da fehlt jetzt nicht mehr gar so viel. Seit bald 50 Jahren bin ich diesem Kunstbetrieb tätig.)

Die frühen 1980er. Im Panzerfahrer-Overall auf der Bühne: Es werde Terz!

Ich hatte eben für meine Autonomie-Glossen bei den Origami Ninjas einerseits mit Musiker Oliver Mally ein paar Modus-Fragen erörtert, andererseits im Archiv einige alte Objekte und Fotos gesucht. Autonomie, Selbstbestimmung. Das bedeutet unter anderem: bei Deals sehr genau auf die Bedingungen und deren Einhaltung achten.

Aber auch: was wird nach innen und was nach außen kommuniziert? Gibt es verdeckte Intentionen? Falls ja, aus welchen Stoffen werden die Mäntelchen zum Bemänteln genäht? (Die Corona-Situation hat Kontraste und Konturen deutlicher gemacht.) Eine typische Warnleuchte? Das Wort Solidarität.

Ich hab es die letzten 12 Monate einige Male so laut tröten gehört wie das Nebelhorn eines Tankers bei schlechtem Wetter. Solidarität! Solidarität! Solidarität! Es fehlen bloß die praktischen Beispiele. Für die Praxis sollten wir eigentlich über kollektive Wissens- und Kulturarbeit reden. Das wäre greifbarer. Belegbar. Aber Solidarität?

Oder! Die andere Warnleuchte ist das Wort Widerstand. Wenn jemand etwa sein Lebenswerk in ein Buch preßt und auf dem Cover steht „Widerstand“, darf man davon ausgehen: hier inszeniert sich ein Meister des Antichambrierens, ein erfahrener Athlet in der Lobbyarbeit zugunsten eigener Interessen.

Oder würden Sie zum Beispiel einer Situation trauen, in welcher der Chef der Industriellenvereinigung mit dem obersten Metaller-Gewerkschafter Arm in Arm geht um den Hacklern zu verklickern, wie man das mit Solidarität, nötiger Widerständigkeit und zukunftsweisender Arbeit richtig macht?

Bei uns geht sowas. Da hat das Kulturvölkchen von mehr als einem halben Jahrhundert Sozialpartnerschaft einiges gelernt. Einer der Effekte: die Angepaßten, die Checker, die Netzwerkerinnen und die Seilschafterinnen sprechen regemäßig von rebellischen Haltungen, zeigen demonstrative Verachtung für das Kleinbürgerliche und machen einen auf Kunstpartisanen. Posen, Posen, Posen!

Zugegeben, auch das kann Gegenstand künstlerischer Arbeit und künstlerischer Existenz sein. Ich sehe mich aber lieber in der Tradition jenes Umbruchs während der Renaissance, als die Idee von der Autonomie der Kunst aufkam.

Das bedeutet, grob gesagt, der Auftrag zum Werk kam nicht mehr von Gott und daher durch die per Gottesgnadentum erhöhten Menschen, also Aristokraten und hohe Kleriker. Der Auftrag zum Werk kommt von der Kunst selbst. Folglich wurden Künstler zu Unternehmern, die a) ihr Geschäft verstehen und b) ihren Fürsten gegenüber sehr höflich sein mußten. Leonardo war nicht so zickig, das mit einer Pose zu verbrämen…

— [Das 19. Jahr] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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