was ist kunst? #20

ich habe im vorigen beitrag behauptet, es würde in meiner näheren umgebung gerade auffallend „beuyseln“. darum noch einige sätze zu diesem thema. das westliche kunstgeschehen hat von marcel duchamp, andy warhol, john cage und joseph beuys im 20. jahrhundert außergewöhnlich starke impulse bezogen.

duchamp hat praktische alle damals bekannten regeln des kunstbetriebes aufgemischt, verworfen. spätestens ab da ist eine irritierende parallelität verschiedener stile und konzepte etwas ganz selbstverständliches. bei beuys angekommen scheint dann auch klar zu sein, daß es im leben kunstschaffender nicht nur um die eigene person und das eigene werk gehen kann.

beuys nutzt, wie andere kunstschaffende auch, seine kompetenzen für eine betrachtung, analyse und kritik bestehender gesellschaftssyseme, poltischer verhältnisse und wirtschaftsformen. er geht dann aber sehr viel weiter und setzt eben diese kompetenzen ein, um — gemeinsam mit anderen — neue ökonomische und gesellschaftliche modi zu entwickeln, die auf dem anspruch begründet sind, sich in der praxis zu bewähren. in diesem zusammenhang besteht die vorstellung eines „erweiterten kunstbegriffs“, der also offensichtlich kein ästhetisches konzept ist, sondern ein politisches.

Joseph-Beuys-Poster für die von dem New Yorker Galeristen Ronald Feldman organisierte US-Vortragstournee Energy Plan for the Western Man von 1974. (GNU license)

wenn joseph beuys proklamiert hat, jeder mensch sei ein künstler, hat er von PORTENZIALEN gesprochen. schöpferische gaben und die möglichkeit des gestaltens von lebenssituationen, von gesellschaftlichen verhältnissen. er sagte dabei ausdrücklich, es gehe nicht darum, daß jeder mensch ein bildhauer, maler oder sänger werde, sondern IN SEINEM FELD schöpferisch und gestaltend tätig werde.

beuys hat seinen erweiterten kunstbegriff auf eine gesamtgesellschaftliche situation und ihre institutionen gemünzt. die soziale skulptur oder plastik, er verwendete beide begriffe, sei eine „neue kunstdisziplin“. was er da entwickelt hat, war AUCH eine kritik am „reduzierten modernen kunstbetrieb“, den er seiner erfahrung nach ähnlich einschränkend empfand wie den wissenschaftsbetrieb.

ich halte es aus solchen gründen für problematisch, wenn schlampig gelesener beuys als konzeptuelle basis für schlampige künstlerische praxis herhalten muß, wenn also künstlerische klitterung, die keiner ausführlicheren debatte standhalten würde, mit beuys’schen kategorien gerechtfertigt würde.

gerade wo beuys seinen „erweiterten kunstbegriff“ erläutert hat, betonte er oftmals, daß es schwierig sei, weil das von einem grundlegenden umdenken und von einem umdeuten vieler begriffe handle. er sagte ausdrücklich, es sei überhaupt nicht möglich, diese dinge bei erstem hören oder erstem lesen zu verstehen. dazu forderte er, man müsse die von ihm und seinen leuten eingeführten begriffe ernst nehmen und ihren gebrauch „üben“, was einlassung und längerfristige befassung verlangt.

beuys deutete seinen erweiterten kunstbegriff anthropologisch, also jeden menschen betreffend. das bezog er, wie erwähnt, auf potenziale, auf menschliche möglichkeiten. daraus leitete er nicht ab, daß die nutzung dieser potenziale zu einer künstlerexistenz, zu einer künstlerischen profession führen müsse. wenn er beispielsweise hervorhob, sein erweiterter kunstbegriff sei identisch mit einem erweiterten ökonomiebegriff, wird deutlich, daß er hier keineswegs ein bestimmtes künstlerisches genre meinte, sondern eine gesamtgesellschaftliche situation.

die kritik, um die es ihm offenbar ging, kennen wir ähnlich, seit kant seinen aufsatz zur frage was „aufklärung“ sei publiziert hat. dort hieß es, aufklärung ist der ausgang aus selbstverschuldeter unmündigkeit. diese unmündigkeit definierte kant so, daß jemand nicht bereit sei, sich seines verstandes ohne anleitung anderer zu bedienen.

beuys verstand das denken als „quellpunkt aller kreativität“. nach seiner überzeugung haben herrschende systeme, wie sie gerade existieren, das selbstständige denken der menschen systematisch verschüttet. medienpraxis, unterhaltungsgeschäft, informationspolitik, all das würde belegen, daß es herrschaftssysteme am liebsten mit schafen zu tun hätten.

dieser text, die folge #20, entstand in beograd, während wir mit einem team der „kollektiven aktionen“ aus moskau bei „treci beograd“ eine weitere station der „virtuosen der täuschung“ erlebten. dabei ging es auch sehr wesentlich um eine künstlerische praxis, die sich nicht primär dem markt verpflichtet, sondern grundlegendere ziele verfolgt. (von links: sergej letov, anica vucetic, mirjana peitler-selakov, selman trtovac und sabine hänsgen)

wenn ich mich also mit jemandem über das thema „erweiterter kunstbegriff“ und „soziale plastik“ unterhalte, führe ich volkommen andere gespräche, als wenn ich mich mit einer kollegin, einem kollegen über meine oder ihre künstlerische praxis unterhalte.

aber! ich habe kein näheres einvernehmen mit kolleginnen und kollegen, die sich NUR für ihre künstlerische praxis interessieren und dabei die befassung mit dem größeren ganzen, mit den gesamtgesellschaftlichen zusammenhängen, ausschlagen. solche leute interesseiren mich nicht. sie müßten schon zu einem bemerkenswerten werk fähig sein, damit mich ihre arbeit fesseln könnte. doch sie selbst langweilen mich, wie mich bohemiens langweilen und noch mehr bohemiens, die sich für rebellen halten.

solche spaßvögel geistern ja in unserem metier immer noch häufig herum. stößt man auf ein geistreiches exemplar, ist etwas kurzweil gesichert. doch diese großspurigen bajazzos im kleinformat, denen man schon allein aufgrund ihres outfits anmerken möchte: „hier kömmt ein künstler!“, schaffen meist nicht einmal drei gerade sätze zum thema kunst.

wir haben aber über kunst zu reden, über ihre aufgabenstellungen, strategien, auch darüber, was heute das geistige bestehen von kunstschaffenden in dieser gesellschaft bedingt und welche rahmenbedingungen das kunstschaffen verlangt, darüber hinaus: welche positionen wir gegenüber den eingeführten institutionen einzunehmen gedenken und welche felder wir besetzen möchten, sie als das terrain unserer praxis und existenz beanspruchen müssen.

[überblick]

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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3 Antworten auf was ist kunst? #20

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