erinnerung als kulturtechnik der menschwerdung

vorweg: mit diesem titel meine ich selbstverständlich nicht, es bedürfe einer kulturellen technik, um mensch zu werden. das ist man, indem man hier ist. aber das laufende werden auf diese oder jene art ist offenbar so angelegt, daß wir durch erinnern uns verändern, also kontinuierlich werden.

ich hab vor jahren das bemerkenswerte buch „auf der suche nach dem gedächtnis“ des nobelpreisträgers eric kandel geschenkt bekommen. der mann hat neurowissenschaft und psychoanalyse zusammengeführt, dabei zu bemerkenswerten erkenntnissen darüber gefunden, wie unser erinnerungsvermögen funktioniert.

diese lektüre stand für mich in einer reihe von themenbezogenen lese-erlebnissen, die mit „descartes‘ irrtum“ von antonio damasio zwar nicht begann, aber von da her wichtige impulse bezog. als junger kerl habe ich „denken, lernen, vergessen“ von frederic vester verblüffend und anregend gefunden. karl popper und karl c. eccels wiesen mir mit „das ich und sein gehirn“ wichtige denkwege, wobei mich vor allem eccels (übrigens auch ein nobelpristräger) mit seinen ausflügen in die quantenphysik definitiv überfordert hat.

aber die idee, daß ein ICH sich ein adäquates organ (gehirn) bauen würde, so meine verkürzte deutung von popper und eccels, hat mich elektrisiert; was das treffende wort ist, denn neben der chemie spielen elektrische impulse offenbar eine starke rolle in unserem leib. dann war da noch „geschichte und gedächtnis“ von jacques legoff für mich eine wichtige station. (legoff ist ein historiker mit einem erzählstil ganz nach meinem geschmack.)  all diese lektüre war bei mir durchwoben vom „radikalen konstruktivismus“ und den ideen von leuten wie heinz von foerster. (kybernetik zweiter ordnung, autopoiese etc.)

sie ahnen den zusammenhang? mich beschäftigen da unsere kulturellen möglichkeiten im rahmen der „conditio humana“ in ihren physiologischen und psychologischen grundlagen der wahrnehmung, jeweils auch im unterschiedlichen historischen kontext betrachtet. das ist ein SEHR aufregender themenkomplex. (vielleicht hätte ich den vorvorigen satz in zwei bis drei teile zerlegen sollen. ;-)) das hat auch sehr viel mit den fragen nach möglichkeiten und bedeutungen der KUNST zu tun.

wer sich diesen themen widmet, staunt schnell über die groteske vorstellung mancher menschen, eine befassung mit kunst sei eher müßiges freizeitvergnügen, sei ein umgang mit dekorationsgeschäften, buntes anhängsel eines lebens, wenn nicht gar „abgehobener“ sonderspaß von minoritäten. wenn man begreift, welche konsquenzen sich aus wahrnehmung und kommunikation der menschen praktisch tagtäglich ergeben, welche grundlagen das BEGREIFEN hat, ändert sich die auffassung von gesellschaftlichen BEDEUTUNGEN der kunst fast zwangsläufig.

seit rund zwei jahren gibt es auch einen sehr amüsanten dokumentarfilm, der den gleichen titel trägt wie kandels buch. daraus ist allerhand über die ergebnisse seiner arbeit zu erfahren: „auf der suche nach dem gedächtnis“ [link] von petra seeger. auf einer eigenen website zum film ist im bereich „presse“ ein interessantes pdf-dokument von 18 seiten umfang downloadbar: [link]

kandel ist das, was wir in österreich eine „lachwurzen“ nennen würden, also jemand, der gerne und oft lacht. mit viel humor erzählt er episoden seines lebens und gibt einblicke in seine arbeit.

eine stelle im film, die es mir besonders angetan hat, ist die passage mit kandels aussagen darüber, daß menschliche kommunikation bedeutet, auf einander VERÄNDERND einzuwirken, was sogar zu ANATOMISCHEN veränderungen in unserem gehirn führe. wahrnehmungsprozesse, kommunikation, unser ganzes kognitives spektrum zuzüglich der vielfältigen kommunikationsformen hat in menschlicher gemeinschaft also radikale auswirkungen.

legen wir das auf die befassung mit kunst um, auch auf unsere auseinandersetzung mit einander, wenn KUNST der ANLASS dazu ist. wenn wir uns also ÜBER kunst auszutauschen – ganz egal, ob als kunstschaffende oder rezipierende — erfassen wir dieses ganze spektrum, das genau NICHT der alltagsbewältigung und dem abarbeiten von routinen gewidmet ist.

das ist ja eine der besonderheit der „sache kunst“. sie ist von solchen „banalen zwecken“ weitgehend befreit, gilt nur sich selbst. das heißt, da haben wir ein sehr puristisch angelegtes feld für grundlegende menshcliche (selbst-) erfahrungen), bei dem es primär um unsere potenziale geht und darum, sie zu verfeinern. das wiederuzm ist dann in den möglichen ergebnissen und erfahrungen nicht bloß dem bereich der kunst gewidmet, sondern läßt mich auf andere art in der welt sein.

da müßte dann doch auch dem letzten dorfdeppen dämmern, welche kraft in der befassung mit kunst liegt und was das für uns bedeutet. dann dämmert einem freilich auch, warum sich eliten angeregt darum bemühen, solche zugänge sich selbst vorzubehalten und den „pöbel“ mit derlei gar nicht erst zu belasten. das klappt ganz gut, soweit ich alle wochen einmal höre, wie „abgehoben“, „elitär“, „unverständlich“ und daher auch „unerheblich“ die „moderne“ kunst sei.

warum sollten sich gar zu viele menschen mit der eigenen wahrnehmung, ihrer kommunikation und der verfeinerung von beidem befassen? anders ausgedrückt… wie sagte joseph beuys? herrschaftssysteme haben es am liebsten mit schafen zu tun. (siehe dazu: was ist kunst? #20)

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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