und dann 2050? #3

was für ganz europa gilt, finde ich schon in der region. das leichthin ausgeprochene „WIR“ ist ein phantasma, eine kühne übereinkunft. so lange alles glatt läuft, bleibt dieses „wir“ stark und fraglos aufgestellt. sobald es konflikte oder krisen gibt, zeigt sich die brüchigkeit solcher übereinkünfte.

schlecht? aber nein! so ist nun einmal unsere spezies offenbar gemacht, nehme ich an, und wir haben unsere KULTUR, um erfahrungen zu sammeln, wie man bei all dem trennenden, das uns ausmacht, GEMEINSCHAFT erfahren kann.

aus der befassung mit gegenwartskunst kennen wir etwas, das sich auch in fragen der alltagsbewältigung oft bestätigt: es können keine „wahrheiten“ generiert werden, indem man einfach möglichst alle widersprüche eliminert.

darin liegt zugleich ein hinweis, daß hierarchische konzepte der deutung unserer welt (definitionsmacht als „monopol“) in dieser gegenwart nicht gerade vielversprechend sind. im sinne von: einer darf sagen, was die dinge sind, alle anderen folgen dann. das haben unsere leute auf viele erdenkliche arten durchgespielt. (es hat übrigens, quer durch das 20. jahrhundert, stets zu massakern geführt.)

ab da wird es nun komplex und anspruchsvoll:
+) wie pflegen wir eine „praxis des kontrastes“ in einer massengesellschaft, wo die menschen höchst unterschiedliche positionen einnehmen, was wissensdurst, sachkenntnis und überblick zum stand der dinge angeht?
+) wie verhandelt man gesamtgesellschaftliche anliegen, wenn deshalb auch kompetenzen sehr unterschiedlich verteilt sind?

wir haben bei „kunst ost“ zu einem ganz pragmatischen arbeitsansatz gefunden. selbst sehr unterschiedlich besetzte felder mit themenstellungen, die allgemein sehr unterschiedlich bewertet werden, können über zwei simple fragen höchstwahrscheinlich zu einem ansatz für
a) nähere verständigung und
b) kooperation kommen.

+) frage #1: haben wir gemeinsame FRAGESTELLUNGEN, die uns gleichermaßen interessieren?
+) frage #2: können wir daraus gemeinsame AUFGABENSTELLUNGEN ableiten, die uns gleichermaßen reizvoll erscheinen und bei denen sich die summe unserer kompetenzen ergänzt?

unsere praxis zeigt: über diese zwei punkte läßt sich auch triviales mit sehr anspruchsvollem verbinden. simples und komplexes haben plötzlich das zeug, geradezu komplementär ineinander zu gehen. das schafft gemeinsamen platz, einen „möglichkeitsraum“ für menschen mit sehr unterschiedlichen neigungen.

zwei augenblicke in unserer kulturellen praxis waren während der letzten wochen anregend für das, worum es nun auch in diesem regionalen projekt zu den „visionen 2050“ gehen mag. den einen moment habe ich in beitrag #2 skizziert. sabine hänsgen („kollektive aktionen“, moskau) zitierte: „wir müssen verfremden, um unsere wahrnehmung zu erneuern.“ und meinte damit eine kulturell gefaßte verfahrensweise unserer kognitiven möglichkeiten, daß wir nämlich „das eigene immer wieder auch über das fremde zu reflektieren“ haben.

dazu paßt eine andere anregung, die sich bei der ersten veranstaltung in der „werkstatt gleisdorf: zeitgeschichte + kultur“ von wolfgang seereiter ergab. nachdem die vernissage verklungen und die musikgruppe nach wien weitergezogen war, fand eine runde zusammen, im sinn des wortes, denn wir saßen im kreis des hellen raumes, um gerade erlebtes zu reflektieren.

die sprachwissenschafterin ursula glaeser, der spache romanes kundig, mit kultur und lebensrealität der roma vertraut (roma service), hatte in der debatte eine exponierte position. es ist ja knifflig, uns quasi in gesamteuropäischer nachbarschaft einer ethnie und kultur anzunähern, die von uns mit so weit in die geschichte zurückreichenden ressentiments, repressionen und klischees getrennt ist.

ursula glaeser und wolfgang seereiter

ich bin bei dieser debatte erneut meine „balkan-erfahrung“ gestoßen. damit meine ich: seit jahrzehnten lese ich viel über den balkan und begleite debatten darüber. seit vielen jahren bin ich mit leuten vom balkan in laufendem kontakt und austausch. wir kooperieren beispielsweise im kulturbereich sehr konkret. ich nehme daher gerne an, die südslawischen ethnien, ihre mentalitäten und eigenheiten seien mir einiugermaßen vertraut.

doch immer wieder erlebe ich dann: ich sehe nicht was ich sehe. ich deute manche momente und situationen völlig falsch. ich sehe gelegentlich nicht, was eigentlich HINTER diesem oder jenem moment steckt.

vielleicht ist es ja so, das diese ethnische vielfalt europas unüberbrückbar bleibt; im sinne dieses trennenden. daß eben vieles, in dem die einen aufgewachsen sind, den anderen verschlossen bleiben muß.

aber eventuell ist genau das die gute nachricht und eine ungaubliche chance, aus solchen kontrasten, aus der beeindruckenden vielfalt der ethnien europas, große vorteile zu ziehen; indem man nämlich das trennende nicht als etwas uns trennendes deutet, sondern als einen kulturellen „schatz“ der verbindet.

und genau das dürfte ebenso auf regionaler ebene zum tragen kommen, denn so viel ist klar: so manche bäuerin der region, so mancher fabriksarbeiter, diese ärztin und jener bürgermeister sind mit in mentalität und vorlieben wesentlich fremder, als nikola dzafo aus petrovaradin oder selman trtovac aus beograd.

ich denke, eine zukunftsweisende arbeit an neuen aufgabenstellungen der regionalentwicklung hat zur voraussetzung, daß es uns gelingt, hierarchische anordnungen kultureller positionen aufzugeben und selbst das lokale wie regionale „WIR“ als eine konvention zu verstehen, als eine kulturelle und politische leistung, welche antwortvielfalt und widerspruch als das verbindende werten.

das klingt vielleicht auf anhieb etwas gewöhnungsbedürftig. ich hab da natürlich leicht reden, weil die befassung mit kunst ohne solche scheinbar widersprüchlichen denkweisen überhaupt keine zugänge aufgehen ließe. mir kommt das also aus den letzten jahrzehnten heraus naheliegend und vertraut vor.

beim ausgangspunkt für eine arbeit an möglichen „visionen 2050“ sehe ich also zwei wichtige „markierungen“, deren kenntnis mutmaßlich eine kulturelle voraussetzung ist, damit solche arbeit gelingen kann:
+) „das eigene immer wieder auch über das fremde zu reflektieren“
+) „ich sehe nicht was ich sehe“

[2050: übersicht]

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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