Karahasan ist gegangen

Mir ist dieser Mann vor allem dadurch in Erinnerung, daß er in Gesprächen manchmal so kleine Pausen machte, in denen er erkennbar über seine nächsten Worte nachdachte.

Karahasan bei unserer ersten Begengung am Freitag, dem 13. April 2001

Wir haben einen naheligenden Begriff für diese Eigenart: Bedächtigkeit. Ich kannte Dzevad Karahasan (1953-2023) nicht nahe genug, um das für eine seiner generellen Eigenschaften zu halten, aber unsere Begegnungen und seine Literatur lasen mich das annehmen. Mir schien an ihm sehr auffällig, daß ihn die Belastungen und die Bedrohungen, denen er als bosnischer Autor in den Kriegstagen ausgesetzt gewesen ist, nicht radikalisiert haben.

Gewalt durch Sprache schien ihm, der Gewalt kennengelernt hatte, völlig fremd zu sein; selbst wenn er über Menschen sprach, die er mutmaßlich für verabscheuungwürdig hielt. Ich habe öfter gehört, die bosnischen Leute hätten einen eigentümlichen Humor. Falls das zutrifft, war er ein Beispiel dafür. Zitat: „Die ganze Zeit des Krieges auf dem Balkan habe ich in Belgrad viel mehr Freunde gehabt als Miloševic.“

Ich mochte sehr, wie unaufgergt und präzise er darüber sprach, was ein Künstler als Aufgabe wählen könnte. Beispiel: „Es stört mich nicht im geringsten, wenn Herr Strache, ein Lastwagenfahrer, ein Unteroffizier, ein Kellner nach Vereinfachungen greifen, sich die Welt zu erklären. Du bist Feind, er ist Freund. Sie ist Frau, sie ist eine Heilige, sie ist eine Hure. Die Welt ist gottseidank einfach, meinem Verstand angepaßt. Aber wenn die Intellektuellen, wenn die ‚Werteproduzenten’, wenn die Leute, die Wertbegriffe, Wertvorstellungen schaffen, wenn Deutungseliten nach Vereinfachungen greifen, ist der Teufel los.“

Ich erlebte ihn jedesmal als klugen Menschen, der bedächtig sprach und stets anregend zu erzählen wußte, egal, was uns gerade beschäftigte. Damit war ein Vorschlag gemacht, in dieser Welt der Geschwätzigkeit und der verkürzten Mitteilungen das konsequente Denken zu feiern, mit dem sich komplexe Situatien ergründen lassen. Das Denken als ein Betriebsmittel der Achtsamkeit.

In meinen Aufzeichnungen zu unseren Gesprächen kommt folgender Satz vor, mit dem Dzevad seine Position markierte: „Die Kunst schützt uns vor Gleichgültigkeit, der Mensch aber lebt, solange er nicht gleichgültig ist.“

[Mit einer Verbeugung vor Dzevad Karahasan notiert am 20. Mai 2023.]

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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