Gleisdorf: Betrachtungen #3

Ich habe die Zweier-Glosse mit dem Satz „Lassen Sie uns politisch werden!“ begonnen. Damit meine ich zum Beispiel, daß in einem öffentlichen Diskurs zu erfahren sein sollte: Wer sind Sie? Was möchten Sie erreichen? Wie und mit welchen Mitteln möchten Sie das erreichen?

Die Ereignisse von Gleisdorf lassen mich annehmen, daß da etliche Leute eben erst aus ihrer Komfortzone in einem politischen „All inclusive-Urlaubscamp“ herausgefallen sind. Ihnen ist „Das Politische“ offenbar erst Thema und Anliegen, seit ihnen eine merkliche Einbuße an Komfort widerfuhr.

Um es etwas forsch zu formulieren: da sie den Hegemonialstreit beim Corona-Thema vorerst verloren haben, weil die „Lügenpresse“ ihnen nicht gehorchen will, machen sie daraus jetzt flott eine imperiale Angelegenheit. Sie wollen die Straße und sonstige Terrains gewinnen (Territorium), da ihnen die Themenherrschaft (Hegemonie) bis jetzt mißlungen ist.

So kam es ganz konkret zu einer Drohkulisse, die an manchen Stellen per Deklaration geleugnet wird. Wenn sich etwa eine größere Menschengruppe zusammenrottet: „Christoph Stark, ÖVP-Bürgermeister im oststeirischen Gleisdorf und Nationalratsabgeordneter, ist seit mehreren Wochen mit Aktionen von Corona-Maßnahmen-Gegnern konfrontiert. Im Zuge von bisher vier Demonstrationen, sogenannten ‚Spaziergängen‘ oder ‚Fackelwanderungen‘, wurden vor seinem Privatwohnhaus Grabkerzen abgestellt und Zettel mit ‚Leb wohl‘ dazugelegt. Die Demonstranten hätten gebrüllt ‚Holt ihn raus‘, bestätigte er am Mittwoch…“ [Quelle: Salzburger Nachrichten]

Drohungen und Denunziation
Wir brauchen das gar nicht erst zu diskutieren: ein Gewaltakt, der den Prinzipien unserer Republik spottet. Wer sich das herausnimmt, wird sich bei weiteren Schritten eventuell mit einem Spezialkommando konfrontiert sehen, denn das Gewaltmonopol liegt beim Staat und solche Drohungen machen deutlich, daß sich hier Leute außerhalb ihres politischen „All inclusive-Urlaubscamps“ noch nicht besonders sachkundig gemacht haben.

Zwischenbemerkung: Darf ich bei all jenen, die nun gerne „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ zitieren, in den Bücherschränken nachschauen, ob ich da wenigstens ein einziges Buch von Bert Brecht finde? Oder kommt diese Ansage aus Readers Digest?

Ich meine, es war eine politische Dummheit, dem Bürgermeister und seiner Frau zu drohen. Eine Dummheit, deren Funktion als Mittel von individueller Spannungsabfuhr ich zwar verstehe, aber nicht billige. So eine Aktion ist Propaganda für das Faustrecht.

Andrerseits höre ich, daß Teilnehmende der Demonstration von Privatpersonen fotografiert werden und dann Arbeitgeber Post erhalten. Ich hab einen Bekannten, der deshalb eben von seiner Chefin formell abgemahnt wurde. Das ist Denunziation. Es ist ferner eine Bankrotterklärung im politischen Diskurs und ein Dienst an der Tyrannei. So läßt sich der Demokratie kein Boden sichern.

Weit prägnanter ist die Sache mit einem exponierten Akteur im Gleisdorfer Demonstrationsgeschehen. Gottfried Lagler, der inzwischen von verärgerten Leuten offen als Rechtsextremer markiert wurde. Man hat mich hinter den Kulissen schon befragt, wie ich zu ihm stünde. Diese Frage empfinde ich als Zumutung. Ich kenne Lagler seit mehr als 20 Jahren. Wir haben in etlichen Kulturprojekten zusammengearbeitet. Ein erfahrener Unternehmer und verläßlicher Kooperationspartner: [Link]

Nun weiß ich mit Sicherheit ganz gut, was einen Rechtsextremen ausmacht. Ich kennen an Lagler keinen Zug, der ihn als Mann der Menschenverachtung ausweisen würde. Was immer jemandem an seinem heutigen Verhalten mißfallen mag, das mit so einem Etikett abzuhaken ist Mumpitz und ein spezieller Ausdruck politischer Inkompetenz. Man muß schon sehr konkret werden, seine Gründe nennen, wenn man jemanden mit so einem Vorwurf behängt.

Begriffe
Wie schon erwähnt, wenn wir keine Begriffe haben, wissen wir nicht, wovon wir reden. Zum kürzlich erwähnten YouTube-Video postete Eva B. auf Facebook: „Es war wieder einmal wunderschön die Liebe siegt immer“. Klingt nett.

Ist das so? Zu einem Video davor schrieb sie: „Wie immer LIEBE, FREUNDE, FREIHEIT. Wer was anderes behauptet, LÜGT!!!!“ So wird nicht debattiert, so wird verkündet. Außerdem ist „Liebe“ eine trübe Kategorie, die übrigens Selbstliebe als Option einschließt.

Zurück zum Beginn dieser Glosse: Lassen Sie uns politisch werden! Wer sind Sie? Was möchten Sie erreichen? Wie und mit welchen Mitteln möchten Sie das erreichen? Wo kann ich das nachlesen? Denn es fehlte bei der Veranstaltung auf dem Gleisdorfer Hauptplatz zum Beispiel an Flugblättern, die das erläutern oder wenigstens eine Quelle im Internet nennen, aus der ich Antworten für diese Fragen erhalte.

Ich hab zu verschiedenen Gelegenheiten stets betont: mit der Natur kann man nicht verhandeln. Mit Menschen aber schon. Doch wenn wir es nicht schaffen im Gespräch zu bleiben, tun sich zwischen verschiedenen Lagern Klüfte auf, die – wie sich zeigt – sogar für Gewaltbereitschaft Platz schaffen. „Liebe siegt immer!“ Ah ja? Ist das so? Wo denn? Wann denn? Das 20. Jahrhundert wäre nun kein großer Beleg für diese Annahme.

Geteilte Lager
Ich hab kein Problem mit der Vorstellung einer „gespaltenen Gesellschaft“, denn die verschiedenen Lager bestanden längst vor Corona. Wir sind eben keine homogene Untertanenmasse.

Wenn ich mir Leute wie Gernot „Das Genie“ Gauper anhöre, den treuherzigen Kärntner mit seinen theologischen und technischen „Beweisen“, den von sich selbst ergriffenen Weststeirer, der beim Begrüßen der Leute nicht einmal weiß, wo er sich grade befindet, wenn ich mir also diese Konsorten anhöre, weiß ich: das muß ein anderes Lager sein, zu Euch gehöre ich nicht. (Da sind offenbar einige Leute aus einem Camp für Hochbegabte ausgebüchst.)

Was also tun? In meinem kleinen „Handbuch bewährter Krusche-Mantras“ lautet eine Stelle: „Intelligenz ist die Fähigkeit, über einander widersprechenden Ansichten nicht den Verstand zu verlieren“. Daraus folgt für mich, daß auch Dissens anregend ist. Nach meinen paar Jährchen auf der Welt würde ich sagen: man kann niemanden gegen deren oder dessen Überzeugungen erreichen. Aber man kann sich fragen: gibt es noch irgendwas, das wir teilen?

Wenn wir das nicht sichern können, irgendeinen Rest, den wir teilen, übernehmen die Hooligans. Was wir allenfalls teilen, läßt sich nur klären, wenn wir unsere Begriffe auf ihre Inhalte überprüfen. Vielleicht entdecken wir dabei manches, was verschiedenen Beteiligten als unverzichtbar erscheint, auch jenen, die einander nicht leiden können. Aber das macht Arbeit.

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Über der krusche

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