Lyrik #4: Everest

Für mich war er ja allerweil „Der Örnstl“, also der Ernst. Genauer: Ernst M. Binder, schließlich Ernst Marianne Binder.

Ernst M. Binders letzte Buchpublikation.

Daß er in Mostar zur Welt gekommen sei, glaube ich bis heute nicht. Das ist aber völlig unerheblich. In den wilden Zeiten nannten ihn alle Everest. Das hat mit einigen weiten Reisen und, ähem, räusper, etwas verbotenen Substanzen zu tun.

Meine Kellerwohnung in der Grazer Schützenhofgasse war gelegentlich die Raststation nach unseren nächtlichen Umtrieben. [Binder-Botschaft]

Wir hatten unsere lustigste Zeit, als wir in kleiner Runde anno 2003 ein Rudel Grazer Kulturmanager mit Parodien so zur Weißglut brachten, daß sogar Anwälte aktiv wurden. Der Ernstl hatte sich über die Jahre vor allem als Regisseur profiliert. Seine Spuren in Österreichs Theaterwelt sind evident.




Mummenschanz, um ein paar Kulturmanager zu zwiebeln: „catholic islamic orthodox church of the free limits in cooperation with the jewish voodoo principle of permanent fatal errors“.

Ich erzähle heute von seiner letzten Buchpublikation, die auf eigenwillige Art zum Thema Lyrik paßt. Der Buchtitel läßt schon erahnen, daß sich hier etwas Poetisches, zwischendurch Theatralisches ereignen könnte: „DAS STUMME H oder Warum die Erde eine Scheibe ist und das Glück der Papagei des Melancholikers“. (Der Genre-Hinweis „Texte“ schafft Spielraum.)

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Binders Prosa geht dann zwischendurch nahtlos in Lyrik über, respektive in Formen mit der Struktur von Gedichten. Manches davon könnte auch einfach eine Dialogpassage sein. Das muß ich als Lesender nicht klären. Aber ich sehe, daß solche Passagen auch herausgezogen werden könnten und für sich als Gedicht funktionieren würden.

Das ist es, was ich an diesem Buch so reizvoll finde. Dieses poetische Vermögen, wie es sich zwischendurch fast beiläufig ereignet und so auch die ganze Prosa tönt, anders klingen läßt. Einer der Texte in diesem Buch hat zum Beispiel den Titel: „Nach dem letzten Wort, ist es dann still?“ (Eine Arabeske)

Der Örnstel, kabarettistisch-politisch.

Darunter ein paar Fußnoten, die klar machen, daß der Scheibende ebenfalls ein Lesender war, seine Autorenschaft sich in einem großen geistigen Raum entfaltet hat, der von gewichtigen Leuten geprägt wurde. Eigentlich eh der einzige Weg, um Autor zu sein.

Daß man die geistige Welt, in der man sich aufhält, in der man selbst wirken möchte, kennt. (Was immer uns in der Kunst gelingt, ruht gewöhnlich auf den Vorleistungen anderer Leute.) Der Ernstl ist 2017 gegangen. Ich vermute stark, die folgende Notiz hat er selbst verfaßt: „Selbst verliehene Genehmigung, müde zu sein“. [Bibliographisches] [Binder-Website]

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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