Raum: Das Innen und Außen

Ich kann die Musik lesen, nicht aber die Hände, von denen sie ausgeht. Damit meine ich, daß es mir keine Mühe macht, der Musik zu folgen.

Fotograf Richard Mayr und Musikerin Thais Bauer.

Aber wenn ich auf die Hände von Pianistin Thais Bauer sehe, bin ich ratlos, was da vorgeht. Es gibt in mir keinerlei Erlebnis, keine Erfahrung, wovon ich eine Vorstellung beziehen könnte, was diese Hände tun und wodurch sie geleitet werden.

Eine rein athletische Leistung kann es nicht sein, auch wenn solche Fingerfertigkeit gewiß laufend Training fordert. In unserem Gespräch war dann dieser Moment, in dem ich erwähnte, daß es mir bei etlichen Stücken mit oft raffinierten Taktmustern völlig schleierhaft sei, wie man durch so ein Werk kommen.

Bauer erwiderte lächelnd: „Wir haben ja Noten.“ Es ändert nichts am Umstand, daß hier zwar ein Zeichensystem, ein Code, zwischen dem Innen und dem Außen vermittelt. Eine Art Landkarte der Bedeutungen. Doch man muß den Weg dann ja auch gehen. Metaphorisch gesagt: Dieser Weg in eine Landschaft läßt sich anhand der Karte der Bedeutungen humpeln, laufen oder tanzen. Das entscheiden nicht die Noten.

Ich muß das hier im Moment nicht weiter ausführen. In jenem Gespräch, auch mit Fotograf Richard Mayr, haben wir uns ein wenig darüber verständigt, daß Klang, Text und Bild eigenständige Erzählungen möglich machen, die sich auch verknüpfen ließen.

Nein, nicht in der Art eines aufgeregten Bildungsbürgertums, das zur Soiree bittet: Die Bilder illustrieren Musik, der Text kommentiert Bilder. Das ist Arbeit für Zivilisten. Das Leben in der Kunst legt andere Bemühungen nahe ergibt andere Aufgaben.

Das erste „Raw Book“ von „Tuesday Microgrooves“.

Was, wenn also wir drei in eine Geschichte hineingingen und von diesem Gang, einer Reise, sozusagen Reiseberichte fällig wären? Musik als ein Narrativ. Bilder als ein Narrativ. Text als ein Narrativ. Drei Erzählungen, die im günstigsten Fall zu einer Art des erzählerischen Akkords führen könnten.

Ist Ihnen die französische Floskel „d’accord“ geläufig? Das heißt zum Beispiel: „Wir sind uns einig.“ „Ich stimme zu, je suis d’accord.“ Von da wurde der Begriff Akkord hergeleitet. Ein aufschlußreiches Zusammenklingen verschiedener Stimmen.

Ich führe schon eine Weile solche Gespräche mit Menschen, die sich in anderen Genres als meinem als virtuos erweisen. Ich sehe mich nach den Berührungspunkten um, nach dem Gemeinsamen im Trennenden.

Es ist klar, daß ich die Welt nicht sehe wie Fotograf Richard Mayr. Wenn ich betrachte, wie Thais Bauer zum Beispiel Grieg oder Rachmaninow paraphrasiert, hab ich auf Anhieb Klarheit: Die Frau ist völlig anders in der Welt als ich. Betrachte ich diese Hände unterm Spielen, ist die Differenz so physisch. Eine sichtbare Übergangszone zwischen dem Innen und dem Außen.

Als Homme de Lettres kenne ich so ein radikales Geschehen im leiblichen Übergang nicht. Da genügt eine Hand, die einen Stift führen kann. Text vermag mir Galaxien zu eröffnen, die ich betrete, in denen ich mühelos und beliebig navigiere, wie das erst jüngst mit dem Internet eine technologiegestützte Analogie erhielt.

Längst bevor der Cyberspace technische Realität wurde, war er Literatur.

Ich war als Lesender und als Schreibender vorher schon in virtuellen Räumen unterwegs. Was wir für den Cyberspace halten, entstand übrigens auch dort. Es wurde zuvor in der Literatur skizziert und beschrieben. Im „Cyberpunk“ von William Gibson, Bruce Sterling und Konsorten, die sich ihrerseits auf Philip K. Dick und andere Klassiker bezogen.

Da gab es Anfang der 1980er, also lang vor dem Internet, einen „Kyberspace“, in den man per „Konsole“ und durch Immerson eintreten konnte. Freilich mit Drogen gedopt, um in die „Matrix“ zu gelangen, wobei man den Körper im Realraum zurückläßt. Man mußte bloß Gefahren wie das „Schwarze Eis“ meiden, so beschrieb es zum Beispiel Gibson im „Neuromancer“.

Wir aber haben zu unseren inneren Galaxien Zutritt ohne solche Technikanwendungen. Technik kommt ins Spiel, wenn vor dort etwas nach außen getragen werden soll, etwa um es einem Publikum anzubieten. Das Innen und das Außen ist mit Zonen der Übergänge ausgestattet, für die wir sorgen, über die wir wachen. Ich denke, in solchen Zonen ereignet sich unter anderem das, was als Poeisis und als Praxis beschrieben wird. Es ist überdies eine Randzone der Transzendenz.

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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