was ist kunst? #18

in zeiten knapper budgets steigt die tendenz, kulturbudgets anzufechten. das hat viele wurzeln. zentrale ressentiments gegenüber diesen genres liegen vermutlich in vorstellungen, wie daß „kultur“ eine freizeitangelegenheit sei und gegenwartskunst sowieso etwas elitäres, das als vergnügen von minoritäten aus dem breiteren gesellschaftlichen geschehen ruhig verschwinden könne.

in solchen attitüden antwortet der vormalige untertan früherer herrschaft. hundert generationen als dienstboten, als mägde und knechte, haben in vielen von uns noch ihre gegenwart. wäre die befassung mit kunst ein dekadentes vergnügen, gleich dem übermäßgen verzehr von süßigkeiten, könnte ich diese pose der aufsässigkeit nachvollziehen.

debatten und erfahrungsaustausch: künstlerin eva ursprung bei den "talking communities"

sehr kurios, daß die nachfahren von mägden und knechten nicht gerade häufig auf den gedanken kommen, fürsten und bischöfe hätten nur zu gut gewußt, warum sie sich diesen bereich, die befassung mit kunst, selbst vorbehalten, während sie den pöbel lieber sehen, wie er sich auf den feldern krummschindet.

denn da ging es all die jahrhunderte im kern um „herrschaftswissen“, auch darum, herr der zeichen zu sein. wer über ein feines reflexionsvermögen verfügt, wer kommunikation beherrscht und herr der zeichen ist, wer also auf symbolischer ebene zu dominieren versteht, hat enorme politische möglichkeiten zur verfügung. ich skizziere hier demnach eine grundausstattung der werkzeugkastens der macht.

jeder polizeistaat, der auf kontrolle der menschen durch physische gewalt setzt, kommt früher oder später an unüberwindliche grenzen seiner tyrannis. gerade der „arabische frühling“ erinnert uns zur zeit daran, daß die tyrannis an einen punkt gelangen kann, wo bügererinnen und bürger mit bloßen händen selbst gegenüber bewaffneten einheiten nicht mehr zurückschrecken.

macht hat also noch ein anderes arsenal als bloß waffenkammern. wie erwähnt, kommunikation, die beherrschung von zeichen und symbolen, damit also die fähigkeit, auf symbolischer ebene den lauf der dinge zu gestalten, reflexionsvermögen, in folge all dessen auch: ausdruckskraft.

drei fotografen, drei konzepte, von links: franz sattler (sitzend) christian strassegger und emil gruber

mit einigen veränderten vorzeichen, wenn es nicht um fragen der machtausübung gehen soll, kann der vorige satz auch auf das thema KUNST angewandt werden. und jetzt dämmert vielleicht manchen, warum es uns so schwer fällt, der gegenwartskunst in der breiten bevölkerung mehr gewicht zu verschaffen und die befassung mit kunst aus dem geruch des dekadenten eliten-vergnügens herauszubringen.

es gibt nur wenige felder menschlichen tuns, wo wir – einerlei, ob als schaffende oder rezipierende – uns so fundamental mit der summe der genannten möglichkeit beschäftigen können; und zwar höchst konzentriert, ohne diese beschäftigung dabei ANDEREN zwecken zu unterwerfen.

zusammengefaßt:
die beschäftigung mit kunst, einerlei, ob als schaffende oder rezipierende, ist unter anderem das üben von kommunikation, das erlernen der beherrschung von zeichen und symbolen, damit also das erlangen der fähigkeit, auf symbolischer ebene den lauf der dinge zu gestalten, das reflexionsvermögen zu stärken, in folge all dessen auch seine eigene ausdruckskraft zu verfeinern, zu verstärken.

wenn sie es einmal unter diesem aspekt betrachten, darf ich die frage empfehlen: und wer will, daß ein ganzes volk sich in diesen möglichkeiten übt?

ein paar weitere hinweise:
wir sind sinnsuchende, zuweilen sinnsüchtige wesen. ich denke, das erklärt sich allein schon in seinem gegenteil. werden menschen zur sinnlosigkeit gezwungen, verdammt, nehmen sie daran sehr bald schaden. kommunikation ist eines der hauptinstrumente von sinnsuche.

das leiden an sinnlosigkeit ist übrigens ein problem, an dem in einer konsumgesellschaft der markt mit großer effizienz ansetzt. mit surrogaten, mit den abenteuerlichsten ersatzstoffen, wird der hunger nach sinn vorläufig gestillt. auch der wunsch nach zuwendung und nach anerkennung, zenrale soziale ereignisse, lassen sich so bewirtschaften, lassen sich ökonomisch und politisch nutzen.

würde es uns gelingen, das ausmaß der denunziation, mit dem eine befassung mit kunst befrachtet ist, zurückzudrängen, könnten erfahrungen offenstehen, die solchen tendenzen entgegenwirken.

damit wir uns recht verstehen, ich sehe nicht die kunst als ein werkzeug um das zu bewirken. die kunst ist die kunst und sich selbst ihr zweck, mit ihren eigenen mitteln. aber wenn wir uns darauf einlassen, machen wir erfahrungen, die uns in diesen anderen zusammenhängen von großem nutzen sein können.

[überblick]

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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