Sprücheklopfen I

Es vergeht kein Tag ohne Perlen der kleinen Deppenprosa, die mir via Social Media auf den Schreibtisch kullern. Weisheiten, No-na-net-Sätzchen, auch Fake-Zitate, dazwischen allerhand nette Sprüche, zu denen man kein Buch gelesen haben muß. Es gibt ja Zitaten-Sammlungen.

Fake-Goethe

Ich nenne das kleine Deppenprosa, weil diese Textchen verfaßt sind, um Wissen und Horizont zu simulieren, um Stimmung zu machen und bei Bedarf Andersdenkende umzuhauen. Von der Bassena über den Stammtisch auf den Boulevard und zack! Hinein in die Social Media…

Es gibt Legionen von Herzchen, die recht ahnungslos weitertragen, was sie auf Facebook oder sonst wo tief berührt hat. Ein populäres Beispiel: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Das glaub ich ja sofort! Goethe lebte von 1749 bis 1832. Es ist ausgeschlossen, daß er so formuliert hat, denn auf die Art wurde damals noch nicht gedacht. Alexis de Tocqueville erhielt 1826 von Frankreichs Regierung den Auftrag Amerika zu bereisen, um von dort zu berichten.

Sein Werk „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/1840) kann Goethe also noch nicht gekannt haben und Demokratie war im antiken Griechenland völlig anders gedacht worden.

Aber ach! Voltaire! Wie oft wurde der in anheimelnden Memes verbraten? Die Sätzchen variieren von Meme zu Meme leicht: „Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Äußersten dafür kämpfen, daß Sie es sagen dürfen.“ (Voltaire)

Fake-Voltaite

Ist das nicht rührend? Ein Stück Unterhaltungsliteratur. Es war die 1868 geborene Evelyn Beatrice Hall, welche unter dem Pseudonym S. G. Tallentyre das Buch „The Friends of Voltaire“ publizierte. In einer Londoner Ausgabe von 1906 findet man auf Seite 199 folgende Passage: „I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.“

Es ist also Hall, die Voltaire sagen läßt: „Ich mißbillige was Sie sagen, aber ich werde Ihr Recht es zu sagen bis zum Tod zu verteidigen.“ Was für eine Pose!

Wenn man schon Literatur zitieren möchte, wie wäre es mit Immanuel Kant? Der publizierte 1784 seinen Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, ein schlankes Bändchen, das ich für sehr lesenswert halte. Darin heißt es: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Was meint er damit? Das: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Eine Einladung zum eigenstständigen Denken. Kant präzisierte: „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Daher schloß der Philosoph: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

In die Fresse!

Hat man sich seines eigenen Verstandes bedient, wenn man das Web durchblättert und markige Memes raushaut? So hat es Kant wohl nicht gemeint. Aber auch die Meme-Schleudern, die zahlreichen Verehrerinnen und Verehrer der kleinen Deppenprosa, berufen sich bei Bedarf gerne auf ein Dokument, das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 als „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ veröffentlicht wurde.

Darin besagt der Artikel 19: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ [Fortsetzung]

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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