Gleich vorweg, ich bin seit Jahren von der eher schlampigen Frage ermüdet, die so oder so ähnlich immer wieder auftaucht: „Kannst du mir eigentlich sagen, was Kunst ist?“
Oft ist das auch keine Frage, sondern eine Unterstellung, die andeutet, Kunst sei vermutlich ein Schwindel, sonst könnte man es ja genau sagen.
Diese Auffassung ist freilich Unfug, welchen sich schlichte Gemüter gönnen, weil sie sich mit Widersprüchlichkeiten und Unwägbarem, mit der Komplexität solcher Themen nicht belasten möchten.
Ich hab es an verschiedenen Stellen schon betont. Die Frage „Was ist Kunst?“ halte ich für antiquiert.
Ich finde interessante Möglichkeiten durch die Frage „Wann ist Kunst?“, denn mein Leben in der Kunst läßt mir keine Zweifel: da geht es um sehr dynamische Phänomene. Die Dynamik kommt ganz wesentlich aus dem Wechselspiel zwischen individuellen Prozessen, laufenden Wahrnehmungserfahrungen, gesellschaftlichen Veränderungsschüben und dem jeweiligen Stand der Diskurse über Kunst.
(Beiträge und Fragen zu einer nächsten Kulturpolitik)
[Vorlauf] Ich will dieses Thema hier noch schnell abschließen, den Sack zumachen. Für die Themenleiste „Was es wiegt, das hat’s“ ist eine weitere Vertiefung der Debatte vorerst nicht wichtig. Ich hab in den vorherigen drei Glossen skizziert, was es mit dem Kunstdiskurs auf sich hat, wie und wo laufend neu verhandelt wird, was der Begriff bezeichnet.
Es sollte uns gelingen, ein „kreatives Hobby“ von Gegenwartskunst zu unterscheiden.
„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Diese Aussage wird dem Juristen Fritz Bauer zugeschrieben, der einst als Generalstaatsanwalt in den Frankfurter Auschwitzprozessen exponiert war.
Seine hier formulierte Auflassung ist nicht nur in politischen und zeitgeschichtlichen Kategorien anregend, die hat auch im Kulturbereich einige Brisanz. Damit ist allerdings keinerlei „Traditionsschützerei“ gemeint, auch keine klassizistische Pose. Es läßt darüber nachdenken, wie Denkweisen und Handlungskonzepte über Generationen hinweg wirken, gelegentlich verblassen, auch ruhen, und plötzlich wieder sehr virulent werden.
Tradierte Motive und Antwortvielfalt als kulturelles Grundprinzip: Es fällt vielleicht nicht gleich auf, aber der Baumarkt ist heute ein spezieller Schmelztiegel von Kulturen und kulturellen Konzepten.
Unser Arbeitsansatz, in der regionalen Wissens- und Kulturarbeit die Felder Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft stärker zu verknüpfen, handelt ganz wesentlich davon, daß Verfahrensweisen und Rollenverhalten aus dem einen Bereich auch in den anderen Bereichen zur Anwendung kommen sollen.
Das „Schätzchen-Duo“ Kerstin Feirer und Sonja Herbitschek
Es haben sich nun im Gefüge des 2015er Kunstsymposions zwei Kreise gefestigt, in denen die Arbeit an den Teilthemen Gegenwartskunst, Populärkultur und Mobilitätsgeschichte personell besetzt ist. In dieser Community ist die Kunst nur ein Genre unter mehreren. Daher lag zum Beispiel im Teilbereich „Fiat Lux“ die Frage auf dem Tisch, ob denn das, was wir gemeinsam begonnen haben, nun ein Kunstwerk sei; und falls ja, wodurch es dazu werde.
Unternemer Ewald Ulrich (links) und Designer Alfred Urleb
Das Symposion [link] ist eine kräftige Markierung im Raum und auf dem Zeitpfeil unserer Vorhaben. Gerade in einer Phase, welche in der gesamten Steiermark mehr als krisenhaft erlebt wird, was gewöhnlich den Bereichen Kunst und Kultur größte Einbrüche beschert, gehen wir nach einem längeren Prozeß der Vorarbeit an die Öffentlichkeit und sagen klar, daß wir der Gegenwartskunst hier, in der Provinz, ganz neue Bedingungen schaffen wollen.
ich denke, hier ist inzwischen schon deutlich geworden, daß die fragen nach der kunst keinen sinn ergeben, wenn jemand das thema mit einigen wenigen sätzen erledigt haben möchte. wer zu kurzen antworten auf komplexe fragen neigt, wird sich andere themen suchen müssen.
vielleicht waren wir alle über zu viele generationen hauptsächlich untertanen, um uns einem der zentralen themen des kunstgeschehens vergnügt zuzuwenden: definitionshoheit. wer darf sagen was es ist? wie lange darf die debatte dauern? wer redet dabei mit? was ist mit jenen, die nicht gehört werden?
eine kleine galerie in tirana (albanien) als bescheidenes beispiel für den teil eines organisierten und strukturierten „kulturellen gedächtnisses“
eine der kuriosesten fragen ergibt sich für mich von der regionalen gesellschaftlichen praxis her: warum drängen sich so auffallend viele leute um die flagge der kunst, wo das leben der kunstschaffenden in diesem land so unübersehbar von sozialer marginalisierung geprägt ist? hier mangelndes sozialprestige der kunstschaffenden, da zugang zu defintionsmacht, was für eine merkwürdige mischung!
ich habe im vorigen beitrag [link] boris groys und deine theorie einer kulturökonomie erwähnt. groys beschreibt ein geschehen, das sein wechselspiel zwischen „profanem raum“ und „kulturellen archiven“ entfaltet. gemäß dieser theorie lassen sich kunstGEGENSTÄNDE (nicht die kunst!) als etwas verstehen, was im profanen raum entsteht, durch aufkommendes interesse und bedeutungszuweisung „valorisiert“ wird, also eine WERTsteigerung erfährt, wodurch es geeignet ist, vom profanen raum in die archive der kultur zu wechseln, weil es als erhaltenswert betrachtet wird.
seit vielen jahrzehnten werden in der gegenwartskunst nicht nur artefakte, gegenstände, als kunstwerke verstanden, sondern auch prozesse sowie verschiedene mischformen. deren „ortswechsel“ aus trivialen positionen richtung kultureller archive ereignet sich also auch nicht von selbst oder selbstverständlich, so ungefähr nach der etwas naiven vorstellung: „das gute setzt sich von selbst durch“. das sind stets prozesse, in denen verhandelt wird. darum gibt es diesen westlichen kunstbetrieb auch nicht ohne theoretische diskurse, ohne kunsttheorie.
die "kulurellen archive" verlangen einen erheblichen einsatz an mitteln. im krieg ist ihre zerstörung durch gegnerische armeen obligat. hier der wiederaufbau eines kulturhauses im albanischen teil von mitrovica (kosovo), mit blick auf den serbischen teil
da stoßen wir also hart auf das oben erwähnte thema definitionshoheit. die theoretischen diskurse über kunst, kunstwerke und über deren wert werden nicht nur, aber hauptsächlich vom personal verschiedener „deutungseliten“ vorgenommen. kunstgeschichte, feuilleton und andere sparten der kunstkritik, politik… und vor allem die kunstschaffenden selbst als jene, die sagen was es ist; oder demonstrativ darüber schweigen.
die antworten auf diese frage „was ist kunst?“ hängen demnach von sehr vielen faktoren ab, vom lauf der zeit und vom stand der dinge, von den jeweiligen positionen der sprechenden, vom verhältnis zwischen marktwert und kulturwert einzelner kunstwerke etc.
die groys’sche theorie handelt unter anderem von der simplen tatsache, daß kunstwerke ihren anerkannten kulturwert auch wieder verlieren können, um in der folge aus den archiven der kultur richtung profanem raum abgeschoben zu werden. das wird nicht gerade der nike von samothrake widerfahren, auchdem feldhasen von dürer droht das kaum. (der verschwindet dafür von selbst, weil unter luft und tageslicht jene partikel aus dem papier verschwinden, welche dürer mit geübter hand aufgebracht hat, um, diesen feldhasen erstehen zu lassen.)
wir kennen aus dem alltag auch die „zwischensituation“. denken sie an die „sixtinische madonna“ von raffael. dieses bedeutende renaissance-gemälde zeigt am unteren bildrand zwei putti, deren popularität jener von pop-stars gleichkommt. deshalb wurde das duo millionenfach auf kitsch-produkte, nippes, heimtextilien, auf jeden nur denkbaren kram übertragen. selbst als wandschmuck kommen diese engelchen daher, als gerahmte flachware. das heißt, nicht etwa als reproduktion des vollständigen bilds raffaels, sondern bloß als kleiner ausschnitt, den geschäftsleute quasi aus dem gemälde rausgeschnitten haben.
das abwerten von "valorisierten kulturgütern": ich schneide mir ein stück aus einem meisterwerk heraus und schmeiß den rest weg
wenn sie kurz im beitrag #12 nachschauen, könnte ihnen auffallen, daß auf einem foto sergei romashko von den „kollektiven aktionen“ mit dem daumen der linken hand auf ein bild hinter seinem rücken zeigt. da hängt kurioserweise eine reproduktion der „madonna sistina“ OHNE die zwei populären putti.
die eine wie die andere version degradiert das werk raffaels zum dekorationsgegenstand. ein unbedeutenderes werk als dieses wäre dadurch wohl zur gänze „re-profanisiert“ und aus den archiven der kultur ausgeschieden worden. nun ahnen sie gewiß, welche knifflige balance kunstschaffende gelegentlich anstreben. sie müssen erreichen, daß ein werk „valorisiert“, also im wert über profane alltagsgegenstände erhoben wird.
es muß allerhand zustimmung erreicht werden, damit so ein werk schließlich in den archiven der kultur aufnahme findet. dabei sollte es aber nicht gar so leicht die zustimmung eines massenpublikums erleben, weil das zwar den marktwert einer arbeit steigern kann, aber ihren kulturwert gefährdet, durch… genau! profanisierung.
solche profanisierung fördert das risiko, letztlich aus den archiven der kultur abgeschrieben, abgeschoben, ausgeladen zu werden. und wer bestimmt nun über all das? viele! es sind laufende diskurse, es sind debatten an allen ecken und enden des kulturbetriebs, die das bewirken.
groys nennt das „hierarchiestiftende wertunterscheidung“. selbstverständlich steht jede hierarchie zur debatte und ist der kritik auszusetzen. aber am organisierten und strukturierten „kulturellen gedächtnis“ (stichwort „kanon“!) läßt sich nicht ohne weiteres rütteln.
das materialisierte kulturelle gedächtnis, wie wir es etwa in bibliotheken, museen und galerien sehen, ist allerdings leichter zu gefährden. geht einer nation das geld aus, werden grade solche einrichtungen vorzugsweise heruntergefahren, geschlossen. marschieren feindliche armeen ein, werden sie meist geplündert und angezündet.
gelegentlich steht mir jemand mit folgender haltung gegenüber: „ja, können sie mir jetzt sagen, was kunst ist oder nicht?“ es scheint manchmal menschen ein beruhigendes gefühl zu verschaffen, wenn sie keine kurze wie bündige antwort erhalten. („aha, er weiß es nicht!“)
bei unseren „talking communties„ erlebte ich sogar die kuriosität, daß eine ausgewiesene kunsthistorikerin behauptete, man könne eigentlich nicht so genau sagen, was kunst sei. kurz und bündig läßt es sich freilich nicht klären. auf die art könnten sie nicht einmal klären, was zum beispiel eine zange sei. oder erklären sie mir einmal, was „sozialpartnerschaft“ ist; immerhin sind wir in der „zweiten republik“ entlang dieses politischen konzeptes aufgewachsen.
selbstverständlich können wir in der frage nach kunst sehr viel klären. das verlangt aber interesse und zeit. wer die welt in drei sätzen erläutert haben möchte, findet auf dem boulverad reichlich zuspruch. hier geht es aber etwas zeitraubender zu.
ich hab nun einige monate keine konzentration für dieses thema gefunden, der eintrag #11 stammt aus dem vergangenen februar. in jenem eintrag sieht man bilder von der eröffnung einer ausstellung des serbischen künstlers nikola dzafo.
dzafo arrangiert dzafo in der "schock-galerie", links flaniert schon mrdjan bajic (foto: art klinika)
in meinem privaten logbuch tauchte dzafo kürzlich auf: [link] er ist gerade dabei, mein set „nobody wants to be nobody“ in der „schock-galerie“ (novi sad) neu zu ordnen: [link] das hat übrigens seinen bezug auf eine unserer früheren stationen in gleisdorf, als wir nämlich 2007 das erste mal mit dem festival „steirischer herbst“ kooperiert haben: [link]
merken sie etwas? dieser text bündelt eine reihe von vorkommnissen, die in der zeit angeordnet sind und zu einander in beziehung stehen. es geht — aus gutem grund — damit noch ein stück weiter, das DOKUMENTIEREN spielt dabei eine wichtige rolle.
der erwähnte eintrag in meinem logbuch handelt unter anderem vom theoretiker boris groys. der ist heuer kurator des russichen beitrags zur biennale in venedig und entschied sich für die „kollektiven aktionen“: „Empty Zones: Andrei Monastyrski and the ‘Collective Actions’ Group (Nikita Alexeev, Elena Elagina, Georgy Kizevalter, Igor Makarevich, Andrei Monastyrski, Nikolai Panitkov, Sergei Romashko, Sabine Hänsgen)“ [link]
romashko und hänsgen waren (gemeinsam mit sergei letov) letzten herbst auf unserer strecke. mit „the track: virtuosen der täuschung“ [link] hatten wir eine der bedeutendsten konzeptkunst-formationen des 20. jahrhunderts in der oststeiermark.
von links: mirjana peitler-selakov, sergei romashko und sabine hänsgen im "gemälde-zimmer" des gleisdorfer "red baron"
für uns war es ein vergnügliches wie anregendes erlebnis, mit so erfahrenen leuten einige zeit zu verbingen. in der gegenwartskunst rußlands spielen ARCHIVE eine bedeutende rolle. außerdem waren die tage mit dieser crew höchst lehrreich; nie zuvor habe ich kunstschaffende erlebt, die es in ihrer arbeit mit jedem detail, bis hin zum einzelnen wort, so genau nehmen.
im gesamten werk der „kollektiven aktionen“ sind die aspekte des archivs und der dokumentation sehr wesentliche bestandteile dessen, wie sich diese konzeptkunst-formation über viele jahrzehnte manifestiert hat.
ich habe nun schon boris groys erwähnt, dessen theorie einer „kulturökonomie“ von den komplementär angeordneten zuständen des „profanen raumes“ und der „kulturellen archive“ handelt.
groys geht davon aus, daß kulturen grundsätzlich hierarchisch aufgebaut sind, genauer: „werthierarchisch“. wir bestimmen permanent, was es wert sei erhalten zu werden und was uns insoferne als banal umgibt, daß wir es zwar haben, benutzen etc., dem aber keine besondere bedeutung beimessen, die uns diese dinge als erhaltenswert erscheinen ließe.
kunst ereignet sich unter anderem genau dort, wo wir dingen eine bedeutung zuschreiben, die sie aus dem „profanen raum“ in die „archive der kultur“ verschiebt. groys‘ theorie finde ich deshalb so anziehend, weil sie überdies das dynamische solcher prozesse betont.
schafft es ein werk zu einem publikum und in die archive? bleibt es es fremden blicken verborgen? ist kunst an veröffentlichung gebunden? (franz sattler und emil gruber bei unserer station in albersdorf.)
was einmal mit der ausstattung zum erinnern geweiht wurde, also in bibliotheken, museen oder anderen archiv-varianten verwahrt wird, kann nämlich auch wieder profanisiert werden, also aus den archiven der kultur in den profanen raum zurückfallen.
umgekehrt kann zum beispiel triviale massenware im lauf der zeit qualitäten zugeschrieben bekommen, die sie in die archive wuchtet, also mit ganz neuer bedeutung auflädt.
ich habe eingangs vor allem einmal begonnen, ein wenig geschichtchen zu erzählen. die „kollektiven aktionen“ aus moskau, nikola dzafo aus petrovaradin, der „steirische herbst“ in der oststeiermark, die prozesse und momente, wie sie hier auch in unseren online-dokumentationen auftauchen. ideen, themen, prozesse, artefakte und dokumentationen. unsere künstlerische praxis ist auf eine sehr kompexe ereignis-kette angewiesen. ist es nur kunst, wenn all das auch „kanonisiert“ und in die geschichtsschreibung eingetragen wird?