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und dann 2050? #8

Das Jahr war für Kulturschaffende jenseits des Landeszentrums insofern sehr problematisch, als es hier keine ortsübergreifende Kulturpolitik gibt, an die oder gegen die sich jemand wenden könnte. Es gibt auch keinen breiteren gesellschaftlichen Grundkonsens pro Gegenwartskunst, der sich etwa, wie in Graz, in konkreten Budgets ausdrücken würde.

Wir sind also hier darauf angewiesen, völlig andere Wege zu finden, wie sich der Gegenwartskunst Terrain sichern läßt. Kulturwissenschafter Günther Marchner hat einen zentralen Aspekt so formuliert:

>>Zeitgenössische Kunst und Kultur wird vorrangig durch öffentliche Mittel finanziert. Dies ist vielfältig begründbar, da es ja um die Finanzierung eines Bereiches geht, der nicht mehrheitsfähig, populär und somit in den meisten Fällen nicht kommerzialisierbar ist. Diese Begründung für die öffentliche Finanzierung von nicht massentauglicher zeitgenössischer Kunst und Kultur beruht jedoch auf einem politischem Verständnis, welches zunehmend an Boden verliert anstatt breitere Schichten zu erreichen.<<

Mit Kulturwissenchafter Günther Marchner widmen wir uns sehr unterschiedlichen Arten von Studien

Diese Passage entstammt einem vorerst noch internen Arbeitspapier unserer „Kulturspange“: [link] Wie verhalten sich nun Verhältnisse und Budgetierungen in Zentren und in deren Peripherien zu einander? Das wissen wir zwar, doch es ist selbst in der sogenannten „Initiativenszene“ eher ein Tabuthema als ein zeitgemäßer Diskussionsgegegenstand. Marchner in seinem Text:

>>Wie wichtig – aber weitgehend unberücksichtig – eine Perspektive ist, die sich nicht nur auf urbane Räume/große Städte konzentriert, zeigt die reale Verteilung der Bevölkerung: In Österreich leben knapp 30% der Bevölkerung in Städten mit mehr als 30.000 BewohnerInnen. Dies bedeutet, dass Kulturentwicklung und die Förderung von zeitgenössischer Kunst und Kultur nicht nur in Ballungszentren, sondern auch dort erfolgen sollte, wo die anderen 70% leben.<<

Das betrifft genau jene Zonen, in denen wir hauptsächlich aktiv sind, wo sich seit Jahren eine zunehmende Landflucht durchsetzt und wo Funktionstragende der Kommunen momentan zu allerhand Formen der Schreckstarre neigen, da von der Landesebene her die Anforderung zu neuen Gemeindezusammenlegungen evident ist.

Informationen zum Status quo in der Region

Das hat unter anderem den bedauerlichen Effekt, daß in der regionalen Politik kulturelle Vorstöße zur ortsübergreifenden Kooperation oft als angebliche „Vorboten“ der unerwünschten Gemeindezusammenlegungen gedeutet werden, was für zusätzliche Blockaden sorgt. Marchner zu diesen Terrains:

>>Und es sollten die Rahmenbedingungen und  Kontexte mitbeachtet werden, in denen der Großteil der  Bevölkerung nach wie vor lebt: in Kleinstädten und ländlichen Gemeinden, wenn auch forciert durch eine tendenzielle Abwanderung aus peripheren Gebieten (dazu zählt zum  Beispiel die Bezirke Liezen und Murau)  und durch ein Wachstum des Umlandes der Städte (zum Beispiel Gleisdorf).  Dies bedeutet, dass eine erfolgreiche von Gegenwartskunst auch davon abhängt, inwiefern diese Bedingungen und Zugänge reflektiert und berücksichtigt werden.<<

Das sind für uns auch Denkanströße in einem aktuellen Prozeß, mit dem der Vorstand der hiesigen LEADER-Region eine breitere Beteiligung der Menschen erreichen möchte, auf daß sie Wege in die Zukunft mitgestalten mögen. Ich denke, wir Kulturschaffende sollten diesen Appell ernst nehmen. Dazu gibt es auch einen ineressanten Arbeitsauftrag an das „Institut für Systemwissenschaften, Innovations- & Nachhaltigkeitsforschung“ (Universität Graz), durch den wir anregende Informationen erhalten.

LEADER-Managerin Iris Absenger-Helmli hat mir eben die Auswertung des ersten Szenarien-Parcours überlassen. Zu den regionalen Gemeinden heißt es da: „Rücklauf zu gering (Trend)“. Ich schließe daraus, daß Funktionstragende der Kommunen momentan durchaus offene Ohren haben, wenn von der Basis her elaborierte Rückmeldungen kommen, wovon Prozesse handeln mögen und wohin sie zielen könnten. Da liegt also durchaus eine Chance für Kulturchaffende, das eigene Genre im regionalen Geschehen aufzuwerten.

[2050: übersicht]

Zur Jahreswende hin

Unser nächstes Plenartreffen findet am Freitag, dem 2. Dezember 2012, im Schloß Hainfeld [link] bei Feldbach statt. Ab 19:00 Uhr werden wir dort unsere Möglichkeiten und Vorhaben für das Jahr 2012 erörtern. Das Schloß, einst der Wohnsitz des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall, ist heute der Möglichkeitsraum des Kulturvereins „bluethenlese“: [link]

Bringt uns natürlich ins Grübeln: Wie können Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft abseits des Landeszentrums in eine gemeinsame Praxis kommen?

Wir haben dort schon einige Sessions absolviert, zuletzt die Konferenz „KUNST WIRTSCHAFT WISSENSCHAFT“: [link] Der Auftakt für eine längerfristige Entwicklungsarbeit, um neue und praktikable Ideen zu finden, diese Bereiche in Wechselwirkung zu bringen.

Denn es ist längst mehr als deutlich geworden: Herkömmliche Sponsoring-Ideen sind in unserem Bereich nicht anwendbar. Die Hauptfrage ist außerdem noch offen: Warum und womit sollen diese Bereiche interagieren, kooperieren? Diese inhaltlichen Fragen müssen formuliert und geklärt werden.

So ist nun unsere „Kulturspange“ [link] auch praktisch installiert und zur Wirkung gebracht. Über Künstler Gerhard Flekatsch ist sie in der benachbarten LEADER-Region „Vulkanland“ verankert. Über Künstlerin Eva Ursprung gibt es eine aktive Verbindung nach Graz.

Andreas Kindermann, Geschäftsführer von „Wollsdorf Leder“, und „kunst ost“-Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov

Wir hatten kürzlich ein sehr anregendes Gespräch mit Andreas Kindermann, dem Geschäftsführer von „Wollsdorf Leder“. Dabei hat sich einmal mehr gezeigt, was wir bei ähnlichen Besuchen schon herausgefunden haben: Themenstellungern, Fragen, Kommunikationsweisen, all das will zwischen so verschiedenen Milieus überhaupt erst einmal kennengelernt und begriffen werden.

Das heißt, hier geht es um Prozesse der Verständigung. Die haben eine ganz grundlegende Voraussetzung: Gegenseitiges Interesse. Das hängt nicht an den Bäumen, um gepflückt zu werden. Das ist im günstigsten Fall das Ergebnis von Begegnungen. Hier ist also von PROZESSEN und von ZEIT die Rede.

Karl Bauer, unser Sachpromotor in Fragen der agrarischen Welt, kennt berufsbedingt diese Aspekte, über die sich Prozesse nicht beschleunigen lassen, sondern als eine der grundlegenden Zutaten auch Zeit verlangen

Ich sehe darin – Prozesse und Zeit — zugleich eine wesentliche Basis von eigenständiger Regionalentwicklung. Denn was die Menschen und die Kräftespiele einer Region ausmacht, kann nicht von PR-Büros generiert werden, sondern – ganz im Gegenteil – ist ja primär das Ergebnis individuellen Tuns, das sich da und dort, also auch in wichtigen Betrieben der Region, zu kollektivern Ereignissen verdichtet.

Das sind Zusammenhänge, die ab nun verstärkt einen Teil der Aktivitäten von „kunst ost“ ausmachen werden; unter anderem auch, um uns als Kulturschaffende einigermaßen deutlich im Zusammenhang des großen Vorhabens „Vision 2050“ [link] zu Wort zu melden, denn Funktionstragende der Kommunal- und Regionalpolitik sind offenbar von sich aus eher noch nicht auf die Idee gekommen, daß in solchen Fragen einige Kompetenz bei den Kultur- und Kunstschaffenden liegt.

Nennen Sie Ihre Gründe!

Es ist schon so, daß meine verfügbare Zeit momentan kaum für künstlerische Praxis reicht, großteils für Debatten, Entwicklungsarbeit und administrative Aufgaben draufgeht. Es wäre ohne Zweifel angenehm, würde mir ein Teil der mühsamen Dinge abgenommen, um mehr Platz für die künstlerische Arbeit zu lassen. Wäre. Könnte. Würde. Träumereien. Der Status quo fordert uns momentan auf andere Art.

Eva ursprung (ganz links) bei der Session in Schloß Hainfeld

Wir hatten eben dieses von Künstler Gerhard Flekatsch initiierte Arbeitstreffen in Schloß Hainfeld, bei dem wir daran gingen, neue Ideen für eine sinnvolle Kooperation mit Wirtschaftstreibenden zu erarbeiten. Eine „Urbanisierung“ der „Provinz“ wäre ja Unfug, weshalb auch herkömmliche Vorstellungen von Sponsoring uns keinen Meter weiterhelfen.

Das war zugleich der Auftakt zu einer kleinen Ausstellung, an der unter anderem Künstlerin Eva Ursprung beteiligt ist. Wie das in Berufsgruppen so üblich ist, auch wir plaudern unter der Arbeit über die „Hackn“, über den Zustand des Betriebes. In den letzten Monaten wurden wir alle vom Lauf der Dinge ziemlich gezaust. Erschöpfungszustände sind inzwischen Standard.

Ich möchte es noch konkreter ausdrücken: Was die Kommunen und das Land uns innerhalb der letzten zwölf Monate zugemutet haben, war so anstrengend, ich bin in dieser Phase definitiv beschädigt worden. Einer der dümmsten Aspekte daran ist die Tatsache, daß unter sprunghaft ansteigendem Krisendruck viele Leute in Politik und Verwaltung diesen Druck sofort an uns weitergereicht haben, in dem sie ansatzlos alles fallen ließen, womit sie grade noch befaßt waren.

Dadurch sind nicht nur wir Kunstschaffenden individuelle beschädigt worden. Dadurch sind auch schon erreichte, also erarbeitete Ziele den Bach runtergegangen. Aber so ist das eben und einschlägige Klagen können beim Salzamt abgegeben werden.

Harmonischer Gemeinderat; die eklatanten Einbrüche im Kulturbereich sind offenbar niemandem aufgefallen

Ich habe gerade in Gleisdorf eine Gemeinderatssitzung miterlebt und war verdutzt, welche Harmonie da herrschte. Das es im Kulturgeschehen nicht nur der Stadt, sondern der ganzen Region gerade ein veritables Desaster gegeben hat, schien diese Harmonie mit keinem Funken Unruhe zu trüben.

Meine Standardfloskel in diesen Zeiten: Es IST so. Und wir haben es offenbar selbst verabsäumt, während der wenigstens letzten zwanzig Jahren konkret wie mit Nachdruck zu fordern, daß in Politik und Verwaltung ausreichend Leute auftauchen müßten, die per Kompetenz in der Lage wären, zu VERSTEHEN, wovon wir reden. Es gibt sie vereinzelt und wir bekommen keinerlei Streß, diese wenigen gelegentlich zu treffen.

Ansonsten haben wir momentan nicht einmal das geringste Gesprächsklima, das zu angemessenen ÖFFENTLICHEN DISKURSEN führen könnte. Man ahnt, dem Abfassen von Protestnoten messe ich die allergeringste Bedeutung bei. Davon kursieren außerdem längst auffallend viele aus der Szene, deren Amtsdeutsch, deren „Funktionärssprech“ kann ich keine fünf Zeilen weit ernst nehmen; wie sollte es dann jemand in Politik und Verwaltung?

Hainfelds Schloßherrin Annabella Ditz und Kunstsammler Erich Wolf: Ohne eine Praxis des Kontrastes wäre in der Region wohl kaum Boden zu gewinnen

Ich bevorzuge vorerst die Arbeit an einer möglichst detaillierten Darstellung des Status quo, um daraus passende Strategien abzuleiten, Handlungspläne zu erarbeiten und loszulegen. All das, wie angedeutet, von öffentlichen Diskursen begleitet. Da wie dort muß es heißen: „Nennen Sie Ihre Gründe!“

Ich mißtraue jenen, die sich darin bedeckt halten, egal, in welchem Lager sie stehen.

und dann 2050? #7

Seit Ende der 1980er beschäftigt mich das Thema „Eigenständige Regionalentwicklung“ und die Frage nach angemessenen Zusammenhängen im Kulturbereich. Es gab ab etwa Mitte der 80er ein deutlich sichtbares Milieu von Kulturschaffenden, die damals vieles von dem erprobten und einführten, was heute Standard ländlicher Kulturreferate ist.

Dennoch ist der kulturpolitische Status quo in der „Provinz“ momentan mehr als besorgniserregend. Wie war das möglich, wo doch so viel kulturelles Engagement Platz gegriffen hatte? Außerdem gingen viele Leute aus diesem damaligen Inituiativenmilieu in verschiedene Institutionen der Gesellschaft, die ein waches Verständnis von Kulturgeschehen fördern könnten. Ich nenne ein regional prominentes Beispiel: Erwin Eggenreich wird der nächste Bürgermeister von Weiz sein. Er war damals ein engagierter Akteur dieser kulturellen Entwicklung.

Gerhard Ziegler (links) und Erwin Eggenreich waren tragende Akteure der regionalen Kulturinitiativenszene in den späten 1980ern. Ziegler ist heute im Projektmanagement tätig, Eggenreich wird der nächste Weizer Bürgermeister.

Ich habe keinen Zweifel, daß einer der Hauptgründe des aktuellen Zustandes im Auseinanderfallen der Milieus liegt, zwischen denen Kommunikation weitgehend abgebrochen ist. Damit meine ich, wir haben aufgrund unserer biografischen Entwicklungen höchst unterschiedliche Felder betreten und weder Anlaß noch Wege gefunden, die Kommunikation zwischen diesen Felder aufrecht zu erhalten, obwohl wir uns aus der Vorgeschichte gut kannten. (Oder vielleicht eben deshalb.)

Ich sehe das übrigens auch als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Innerhalb der letzten zwölf Monate haben Konfliktlagen im sozialen und kulturellen Bereich deutlich gezeigt, daß mindestens auf der Landesebene die Politik und die Zivilgesellschaft, als zwei Sphären eines größeren Zusammenhangs, auseinandergefallen sind und daß die Kommunikation zwischen diesen beiden Sphären stellenweise bloß noch Simulation ist.

Aber auch auf kommunaler Ebene ist Kommunikation sehr schwierig geworden. Gremien der Gemeinden scheinen eher auf sich zurückgezogen zu sein. Ratlosigkeit nimmt zu. Das Thema Gemeindezusammenlegungen dominiert offenbar viele Arbeitsbereiche. Auch die „Großregion“, eben erst schwungvoll konstituiert, läuft anscheinend auf ein Schwimmen in Gelee hinaus.

In der Kleinregion Gleisdorf heißt es: „Gemeindezusammenlegung nein danke!“ Mit einer kuriosen Ausnahme, wo zwei Winzlingsgemeinden die Fusion erwägen. Allerdings unter der Bedingung, daß ihnen vom Land ein neues, gemeinsames Gemeindezentrum gebaut würde. Lustig!

Die Sitzungen des Gleisdorfer Gemeinderates haben einen öffentlichen Teil, der besucht werden kann, um aus erster Hand zu erfahren, was im Rathaus läuft

Das Thema „Großregion“ wurde 2009 eingeführt: [link] Die Politik hatte entschieden, es sollen in der Steiermark sieben Großregionen formiert werden. Im Gleisdorfer Gemeinderat erfuhr ich: Die Aufgaben sind noch unklar. Auch die Zusammenarbeit mit LEADER sei weitgehend unbestimmt. Es sei eben ein „Werdungsprozeß“. Die regionalen Mühlen mahlen also sehr langsam, während uns die Probleme galoppierend entgegen kommen.

Das korrespondiert freilich mit dem rasenden Servicebedürfnis der Bevölkerung, deren Großteil offenbar von öffentlicher Hand Leistungen erwartet, ohne ausreichend zu klären, was dabei an Eigenverantwortung und Selbstorganisation verstärkend ins Spiel kommen könnte. Dazu hat sich Helmut Kienreich, derzeit Bürgermeister von Weiz, recht deutlich geäußert: [link]

Ich sehe sehr deutlich im Kulturbereich, wie das Servicebedürfnis die Eigeninitiative überlagert. Was ist in den letzten Jahren „bottom up“ entstanden? Welche Kulturschaffenden treffe ich etwa bei Meetings der „Kleinregion Gleisdorf“, wo man völlig zwanglos mit Funktionstragenden der Kommunen ins Gespräch kommen kann?

Es ist verlockend, Politik und Verwaltung mit Vorhaltungen zu konfrontieren. So lassen sich die Ursachen für Stagnation und Kompetenzverluste bei anderen finden. Ich tendiere dazu, primär auf dem eigenen Feld für neue Klarheiten zu sorgen und Handlungspläne zu entwickeln. Parallel müssen wir uns überlegen, was getan werden soll, damit Leute in Politik und Verwaltung zu verstehen beginnen, wovon wir reden. Das ist nämlich nicht von hausaus gegeben. Kommunikation. Übersetzungsarbeit. Das erledigt sich nicht von selbst.

"kunst ost" und die bereichsübergreifende kooperation: gleisdorf, hainfeld (feldbach) und graz, hier gerhard flekatsch und eva ursprung

Ab da lassen sich Kooperationen entwerfen und erproben. Klare Inhalte, gelingende Verständigung, ohne diese Ausgangspunkt droht jede weitere Bemühung in leere Kilometer zu münden. Mein Credo für diese Prozesse: Klären wir zuerst quer durch verschiedene Metiers, ob wir gemeinsame Fragen haben, deren Bearbeitung uns interessant erscheint. Falls ja, klären wir, welche gemeinsamen Aufgaben eine Bündelung unserer verschiedenen Kompetenzen nahelegen würden.

[2050: übersicht]

und dann 2050? #6

Wenn uns für die Zukunft etwas gelingen soll, müßte uns die Gegenwart einigermaßen klar und verständlich sein. Das ist momentan ein anspruchsvolles Thema, weil sich aus der Vergangenheit heraus nun im Lauf der Dinge ein Tempo entfaltet hat, das alle Lebensbereiche durchdringt und das in der Art bisher ohne Beispiel war.

Philosoph Peter Sloterdijk hat das in einem sehr anregenden Interview (manager magazin 2009) so beschrieben: „Wir sind in ein Zeitalter der unmenschlichen Geschwindigkeiten eingetreten — und dieser Übergang läuft mitten durch unsere Lebensgeschichten. Wir nehmen an einer maßlosen Beschleunigung teil und besitzen nur ein konfuses Vorgefühl von dem, was wirklich mit uns geschieht. In zwei oder drei Generationen wird man deutlicher sehen.“ [Quelle]

Von Links: Andreas Kindermann (Geschäftsführer), Karl Bauer (Tierarzt), Mirjana Peitler-Selakov (Kuratorin) Und Michaela Knittelfelder-Lang (Malerin) in der Lederfabrik Wollsdorf

Ein „konfuses Vorgefühl“. Das ist gelegentlich gar kein so übler Zustand, um etwas zu erahnen, wo genaueres Erkennen noch unmöglich bleibt. Aber bei „kunst ost“ wollen wir momentan einiges viel genauer wissen. Was soll denn das sein, die „Energie-Region“? Worauf läßt sich die Idee stützen, dies sei eine Region? Das muß sich ja ganz wesentlich aus dem Beziehen, was Menschen hier konkret tun, womit und wodurch sie ihre Leben gestalten.

Ich verfolge laufend, wie solche Fragen von der Politik her behandelt und beantwortet werden, vor allem auf kommunaler und auf Landesebene; siehe etwa Projekt-Log #356! Sitze ich mit einem Unternehmer an einem Tisch, kommen natürlich andere Aspekte ins Blickfeld. Eben hatte sich Andreas Kindermann, Geschäftsführer der Lederfarbrik Wollsdorf, für uns einige Zeit genommen.

In welchen regionalen Zusammenhängen ereignet sich ein Betrieb, der auf dem Weltmarkt eine markante Rolle spielt? Das war eine überaus spannende Debatte, von der ich noch ausführlicher erzählen werde. Die wirtschaftliche Situation eines Lebensraumes kommt uns ja meist nicht besonders bemerkenswert vor, so lange alles klappt und gedeiht. Erst wenn sich Defizite und Problemlagen breit machen, dämmert uns, daß wir diese Kräftespiele wenigstens skizzenhaft verstehen sollten.

Wollsdorf scheint zu gedeihen. Was bedeutet das? Was verlangt das? Davon später mehr! Ein anderes Gedeihen hat eben kuriose Früchte getragen. Ich habe hier schon von unserer Kooperation mit Unternehmensberater Erich Wolf erzählt und daß wir nun mit einem mehrjährigen Prozeß befaßt sind, der ein „Kompetenzzentrum für steirische Gegenwartskunst“ herbeiführen soll. Siehe: [link]

„Das unabhängige Wirtschaftskomitee ‚Initiativen Wirtschaft für Kunst’ vergibt den Österreichischen Kunstsponsoringpreis ‚Maecenas’ heuer bereits zum 23. Mal…“ Fein! Zum Beispiel an Erich Wolf. Ein schönes Signal und ein aktueller Anlaß, auf regionaler Ebene genauer herauszuarbeiten, was denn Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur genau sein können.

Genau das, solche Zusammenhänge, sind ja unter anderem auch Gegenstand des Projektes „iEnergie Weiz Gleisdorf“ selbst, wo etwa Universitäten und die Grazer TU den Auftakt gestaltet haben. Da wurden übrigens gerade die ersten Rückmeldungen eingearbeitet. Das adaptierte Szenario, mit dem wir uns befassen, ist hier deponiert: [link]

Die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur beschäftigen uns auch in der Kooperation mit einer Kulturinitiative der Nachbarregion Vulkanland. Künstler Gerhard Flekatsch ist unser Kooperationspartner im Verein bluethenlese, welcher im geschichtsträchtigen Domizil des Joseph von Hammer-Purgstall etabliert ist, im Schloß Hainfeld nahe Feldbach. („Geschichtsträchtig“ ist hier keine Floskel, sondern ergibt einen sehr konkreten historischen Hintergrund zu unseren aktuellen Kooperationen mit Südosteuropa.)

Künstler Gerhard Flekatsch und Künstlerin Eva Ursprung bei den Vorbereitungen für unsere aktuelle Session

Damit richten wir eine längerfristige Arbeitsebene ein, auf der ein Kreis relevanter Personen die Klärung solcher Fragen konsequent verfolgen wird. (Mit der darauf folgenden Station werden wir im Jänner 2012 bei „KWB“ zu Gast sein.) Wenn wir also präzisieren möchten, mit welchen Vorstellungen ausgestattet sich in eine Zukunft blicken läßt, die sich 2050 auf diese oder jene Art einlösen wird, dann sollte eine mit Kontinuität versehene Kommunikationslage zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sich als vorteilhaft erweisen können.

[2050: übersicht]

und dann 2050? #5

Um es vorweg zu betonen: Die ersten Absätze dieses Beitrages mögen etwas deprimierend klingen. Ich muß das so ausführten, damit der Status quo klar wird. Im Anschluß wird es aber sehr optimistisch; wenn ich meine Schlüsse ziehe…

Ich komme mit Absagen besser zurecht, wenn sie offen formuliert sind, statt bloß unter einem Lächeln exekutiert zu werden. Zum Beispiel: „Festhalten möchte ich jedoch, daß wir keine externen Marketingaktivitäten durchführen und dafür auch kein Budget haben. Eine finanzielle Unterstützung der Künstler ist uns daher leider nicht möglich.“ Das ist ja keine Seltenheit.

Vieles ist in Umbruch befindlich. Auch Gerald Gigler, beim Land Steiermark für die LEADER-Regionen zuständig, kann uns augenblicklich nicht sagen, wohin es in naher Zukunft mit diesen Konzepten geht

Mehr noch, inzwischen agieren ja auch Kommunen so. Kennt noch jemand kleinere oder mittlere Gemeinden, deren Funktionstragende Kunst und Kultur für ebenso wichtig halten wie das Bildungs- oder Gesundheitswesen? Werden dafür Budgets bereitgestellt? Diese Fälle sind rar geworden.

Offen gesagt, ich war zwischenzeitlich etwas erschrocken, wie umfassend hier in der „Provinz“ der Kulturbereich an wesentlichen Ecken fallen gelassen wurde, als die Krisenmomente zunahmen. Es erfolgte ein weitreichender Rückzug auf vertraute Positionen, was bedeutet: Events, Projektchen mit Tourismusbezug, aus! Es gibt auch keinen aktiven Dialog Funktionstragender mit bewährten Kulturschaffenden. Damit meine ich: Von den Gemeinden geht derzeit offenbar gar nichts aus.

Es scheint, als sei die Schildkröte zum Wappentier der Region erwählt worden. Da ist sicher noch Leben unter dem Panzer, aber es läßt sich nicht sagen, ob sich nun etwas bewegen wird oder nicht.

Gut, da wäre nun gerade ein als Offensive angelegter Prozeß, bei dem unter der Headline „Visionen 2050“ Debatten und Feedbacks angeregt werden sollen, die im Sinne einer wachsenden „Bürgerbeteiligung“ funktionieren mögen. Also ein diskursiver, eine soziokultureller Prozeß.

Der Prozeß läuft, Rückmeldungen führen zu Veränderungen der Grundlagen. Aber was wird solchen Vorgängen Dauer verleihen? Wie wird allenfalls professionelle Begleitung für ehrenamtliches Engagement gestaltet sein?

Der Auftakt ist bemerkenswert, weil das Projektteam von diversen Universitäten und der TU Graz einen sehr interessanten Ausgangspunkt erarbeitet hat. Hat es sich deshalb ereignet, daß sich der Vorstand unserer LEADER-Region, immerhin alles Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, an ihre Leute aus Bildungswesen und Kultur gewandt haben, um ihnen zur Sache einen Vorschlag zu machen oder sie zur Zusammenarbeit einzuladen?

Nein, das hat sich nicht ereignet. Diese Idee ist offenbar kaum naheliegend. Gut. Da besteht eben Klärungsbedarf, der in den vergangen Jahren nicht statgefunden hat. Es ist fast, als begännen wir anläßlich dieses Projektes bei Null. Fast. Denn immerhin haben wir Kunst- und Kulturschaffenden die letzten Jahre genutzt, um verschiedene Modi zu erproben und praktische Erfahrungen zu sammeln.

Das bedeutet AUCH:
Es kann gar nicht genügen, in diesem Kulturbereich aufzutreten und den Anspruch „Ich bin Künstler“ als einzig relevantes Thema einzuführen. Ebenso könnte man vorbringen, Lehrerin zu sein, Krankenschwester, Polizist, was auch immer. Das ist ja für sich kein relevantes Statement, sondern bloß ein Hinweis darauf, worüber nun geredet, eventuell verhandelt werden könnte.

Zurück zur Passage „…daß wir keine externen Marketingaktivitäten durchführen und dafür auch kein Budget haben. Eine finanzielle Unterstützung der Künstler ist uns daher leider nicht möglich.“

Es wäre naiv bis skurril, wollten regionale Kunstschaffende, die keinen internationalen Marktwert für sich geltend machen können, bei einer Firma ankommen und sagen: „Geben Sie uns einiges Geld für unsere künstlerischen Vorhaben, wir bieten Ihnen dafür einen Imagegewinn.“

Das wäre freilich ein Kernereignis von Sponsoring, wie wir es bisher kennen. Kulturschaffende bieten Unternehmen wenigstens zweierlei Möglichkeiten: a) Sich im Gemeinwesen soziokulturell zu engagieren und b) dabei auch einen Imagegewinn für den Betrieb zu verbuchen.

Minimalbetrieb in der Kommune: Sigrid Meister vom Gleisdorfer Büro für Kultur und Marketing bekommt ein Kind und geht demnächst in Karenz. Ihr bisheriger Chef Winfried Kuckenberger geht eben in Pension, sein Nachfolger Gerwald Hierzi wird im Februar 2012 seinen Dienst antreten.

Das kann keine Basis für unsere regionalen Vorhaben sein, weil sich so ein Zugang praktisch nicht einlösen läßt. Ich habe im vorigen Beitrag schon notiert, welchen Ausgangspunkt ich für „kunst ost“ herausgearbeitet habe, um klären zu können, was an Kooperationen denkbar wäre. Und DAS ist der wesentliche Punkt: Kooperation.

a) Gibt es aktuelle Fragestellungen, die uns gleichermaßen interessieren?
Falls ja, bleibt zu erörtern:
b) Gibt es Aufgabenstellungen, die sich aus diesen Fragen ableiten und die wir teilen könnten?
Das verlangt auch Klärung:
c) Welcher Art sind unsere Kompetenzen, die sich in einem gemeinsamen Vorhaben komplementär ergänzen und verstärken könnten?

Das bringt mich wiederum zum Themenkomplex „Visionen 2050“. Es wird viele Wege geben, zu dieser großen Themenstellung etwas Relevantes beizutragen. Ich denke, der hier angerissene Modus ist einer davon, welcher vor allem brauchbare Erfahrungen schaffen kann, wie denn nun höchst verschiedene Instanzen eines Gemeinwesens, einer regionalen Gesellschaft erst einmal mit einander in Dialog kommen können, um schließlich auch da und dort zusammenzuarbeiten.

Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß solcher Zugang uns den Weg zu neuen Verfahrendweisen und Strukturen im Kulturbereich weist.

[2050: übersicht]

Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft…

Warum ist die Befassung mit Kunst wichtig? Das läßt sich selbstverständlich beantworten. Aber nicht in zwei Sätzen. Dazu ist etwas mehr Zeit und Konzentration nötig. Eine Gegenfrage bringt einen allerdings schon mit einem Satz auf die Fährte: Warum geht jede Tyrannis gegen Kunstschaffende vor und bemüht sich, oft mit viel Gewalt, sie an die Leine zu legen?

Gehen Sie also ruhig davon aus, die Befassung mit Kunst berührt und bewegt sehr grundsätzliche menschliche Möglichkeiten. Das erschöpft sich keineswegs in Ausstellungen und diversen Aufführungen. Davon handelt freilich regionale Kulturpolitik überwiegend.

Künstler Gerhard Flekatsch (Kunstverein „bluethenlese“)

Bliebe zu klären, was darüber hinaus Gewicht hat und warum andere Aspekte des Kunstgeschehens in den Kommunen praktisch überhaupt nicht wahrgenommen werden; auch im Sinn einer aktiven Beteiligung an anderen kulturellen Prozessen als bloß jenen der Kunstpräsentation.

Bei „kunst ost“ sind wir längst daran gegangen, diese größeren Zusammenhänge zu bearbeiten und das auch mit regionalen Wirtschaftstreibenden zu verknüpfen. Nun machen wir einen weiterführenden Schritt in der Kooperation mit Künstler Gerhard Flekatsch und dem Verein „bluethenlese“.

Es geht dabei NICHT um die simple Idee, Unternehmen würden im Tausch gegen möglichen Imagegewinn Sponsorbeträge in Kunstprojekte investieren. Das sind Modelle eines ganz anderen Kultursektors, die sich natürlich nicht beliebig übertragen lassen.

Wir trennen erst einmal: Was ist die Kunst? Was ist künstlerische Praxis? Was sind Kompetenzen, die aus der Befassung mit Kunst erwachsen?

Folglich geht es auch nicht um eine flotte Verkaufsvariante. Wir haben zuerst einmal im Dialog mit Wirtschaftstreibenden zu klären:
a) Gibt es aktuelle Fragestellungen, die uns gleichermaßen interessieren?
Falls ja, bleibt zu erörtern:
b) Gibt es Aufgabenstellungen, die sich aus diesen Fragen ableiten und die wir teilen könnten?
Das verlangt auch Klärung:
c) Welcher Art sind unsere Kompetenzen, die sich in einem gemeinsamen Vorhaben komplementär ergänzen und verstärken könnten?

Ich habe diese Überlegungen herausgearbeitet, um eine Vorstellung von möglicher KOOPERATION zu entwickeln, bei der sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Genres treffen könnten. Davon erwarte ich mir eine realistische Perspektive und eine praktikable Idee von längerfristiger Zusammenarbeit, die auf Prozesse zielt und sich nicht in einzeln gesetzten, womöglich großspurigen Events erschöpft.

Damit konzentriere ich mich auch auf Optionen, die in jenem „Ideenspiel“ anklingen, welches momentan unter dem Slogan „Vision 2050“ regional zur Debatte steht. Da war ja zu fragen: Auf welche Art könnten oder werden sehr unterschiedliche Instanzen der regionalen Gesellschaft mit einander kommunizieren, um eventuell auch in Kooperationen zu finden?

Wie oben angedeutet: Aktuelle Fragestellungen, die uns gleichermaßen interessieren, könnten zu Aufgabenstellungen führen, die wir uns eventuell teilen wollen.

[2050: übersicht]

und dann 2050? #4

wir haben bei „kunst ost“ die aufgabe gewählt, im zentrum unserer arbeit der GEGENWARTSKUNST zu mehr augenmerk, wertschätzung und spielraum zu verhelfen. um das zu bewirken, sind wir allerdings gut beraten, den größeren zusammenhang dieses kulturellen themas zu beachten, zu betrachten und zu bearbeiten.

wir konzentrieren uns also über weite strecken auf SOZIOKUKTURELLE themenstellungen. der themenrahmen ist so definiert: „zwischen landwirtschaft und high tech“. dabei beziehen wir uns vor allem auf aspekte der sozialgeschichte und mentalitätsgeschichte, um von daher auf die gegenwärtige alltagspraxis verschiedener lebensbereiche einzugehen.

rund um das vorhaben „vision 2050“ ergeben sich nun anlässe, erneut zu klären, welche rollen KULTURSCHAFFENDE im gemeinwesen finden und einnehmen können. gemeinwesen, das ist im grunde auch ein überbegriff für die summe jener kräftespiele, in denen sich menschen zwischen eigennutz und gemeinwohl entscheiden. dieses thema habe ich gerade in einer begegnung gestreift.

wolfgang leitner, gemeinderat, von beruf statiker

gemeinderat wolfgang leitner ist techniker. in einer kleinen plauderei hat er jene zwei interessanten pole betont, die zu beachten vermutlich sehr wichtig ist. einerseits spricht er gegen die inzwischen immer häufiger beklagte überregulierung und meint berispielsweise: „wenn du dir ein haus baust, willst du ja auch nicht, daß dir jedes detail vorgeschrieben wird.“ auf der anderen seite, wenn wir über belange der ökonomie und ökologie sprechen, sagt er: „manches kannst du nur über den preis und über vorschriften regeln“, weil die meisten menschen in der orientierung auf eigennutz keine ausreichende motivation aufbrächten, diesen eigennutz zugunsten des gemeinwohls angemessen zurückzunehmen.

ich denke, genau hier stecken auch manche vorhaben der regionalpolitik fest. ich schließe daraus, daß gemeinwohl passend dargestellt werden muß, um in diesen punkten etwas voranzubringen. und das geht sicher nicht über flotte werbesprüche. für kunst- und kulturschaffende kann das bedeutet: begegnen und erzählen. („erzählen“ meint hier freilich ganz verschiedene künstlerische techniken und verfahrensweisen.)

das meint nicht, der kulturbetrieb sei als „werkzeugkiste“ für sozialarbeit und regionalpolitische reparaturarbeiten gedacht. der kulturbetrieb schafft einen ereignis- und erfahrungsraum für einige ganz grundlegende kompetenzen der menschen. das hat auch seine trivialen ausläufer.

emil gruber, sammler, reisender, besitzer einer „wunderkammer“
emil gruber, sammler, reisender, besitzer einer „wunderkammer“

ich sehe mich selbst als ein kind der pop-kultur. diese proleten-situation in grazer hochhäusern hatte zwar einzelne momente mit beethoven und mozart, aber ohne goethe, zweig und handke. das war also keine kindheit nach der art des bildungsbürgertums, sondern eine welt, in der „readers digest“ und popmusik dominiert haben, in der comic-hefte als „schundhefte“ ausgewiesen, aber sehr populär waren.

diese meine welt, in der harte schläge als normal galten, aber intellektualität verdacht erregte, ließ mich an trivialen stoffen großen geschmack finden. das ist ein stück hintergund jenes tätigkeitsbereiches, den wir heute in der region einem „kuratorium für triviale mythen“ übertragen haben: [link] von sammler emil gruber, der unser manifest des „avantourismus“ verfaßt hat, habe ich eine vorstellung von „wunderkammern“ bezogen, die sehr emotionales, genau nicht theoretisch fundiertes sammeln ausdrücken.

in grubers avantouristischen traktat heißt es an einer stelle: „2. Unsere vertragliche Pflicht ist nicht die ordnungsgemäße Vermittlung von Pauschalavantourismuserkenntnissen sondern individuelle avantouristische Erkenntnisleistungen.“ ein ironischer hinweis darauf, daß wir erfahrung und erkenntnis nur über eigeninitiative und die wahrnehmung eigener verantwortung für erreichbar halten.

techniker m. (links) im selbstgebauten cockpit einer formel 1-simulation und dj m. an den turntables (zur wahrung der privatsphäre anonymisiert)

inzwischen sind freilich noch ganz andere felder von jugendkulturen aufgegangen, die von anderen musiken und anderen codes bestimmt sind, anders als alles, mit dem ich aufgewachsen bin. kurios genug, daß wir darin berühungspunkte und überlappungen finden, denn wenn diese youngsters party machen, repräsentiere ich eigentlich dabei die generation, die von ihnen schon zu großeltern gemacht wurde. das ergibt interessante begegnungen und kuriose interferenzen: [link]

noch einmal zurück zu gemeinderat wolfgang leitner, der dem kulturausschuß von gleisdorf angehört. in unserer erörterung kam ein nebensatz vor, den ich für sehr wichtig halte: „wir können im kulturausschuß nur bearbeiten, was uns vorgelegt wird.“ der ausschuß ist also kein gremium, das von sich aus in kulturpolitischen fragen aktiv wird. er ist ein fachausschuß, der dem gemeinderat zuarbeitet.

daraus folgt, wir müssen vor allem einmal von uns aus klären, welche rollensituation und welches verhältnis wir als kunst- und kulturschaffende gegenüber a) dem gemeinderat und b) dem kulturausschuß einnehmen wollen. von da ab kann sicherlich wachsende verständigung greifen, kann sich auch ein zeitgemäßer entwurf der kooperation zwischen a) der kommune und b) bürgerinnen und bürgern entwickeln.

was das an kulturpolitischen optionen für nicht bloß einen ort, sondern eine region ergeben soll, will erst geklärt sein.

[2050: übersicht]

und dann 2050? #3

was für ganz europa gilt, finde ich schon in der region. das leichthin ausgeprochene „WIR“ ist ein phantasma, eine kühne übereinkunft. so lange alles glatt läuft, bleibt dieses „wir“ stark und fraglos aufgestellt. sobald es konflikte oder krisen gibt, zeigt sich die brüchigkeit solcher übereinkünfte.

schlecht? aber nein! so ist nun einmal unsere spezies offenbar gemacht, nehme ich an, und wir haben unsere KULTUR, um erfahrungen zu sammeln, wie man bei all dem trennenden, das uns ausmacht, GEMEINSCHAFT erfahren kann.

aus der befassung mit gegenwartskunst kennen wir etwas, das sich auch in fragen der alltagsbewältigung oft bestätigt: es können keine „wahrheiten“ generiert werden, indem man einfach möglichst alle widersprüche eliminert.

darin liegt zugleich ein hinweis, daß hierarchische konzepte der deutung unserer welt (definitionsmacht als „monopol“) in dieser gegenwart nicht gerade vielversprechend sind. im sinne von: einer darf sagen, was die dinge sind, alle anderen folgen dann. das haben unsere leute auf viele erdenkliche arten durchgespielt. (es hat übrigens, quer durch das 20. jahrhundert, stets zu massakern geführt.)

ab da wird es nun komplex und anspruchsvoll:
+) wie pflegen wir eine „praxis des kontrastes“ in einer massengesellschaft, wo die menschen höchst unterschiedliche positionen einnehmen, was wissensdurst, sachkenntnis und überblick zum stand der dinge angeht?
+) wie verhandelt man gesamtgesellschaftliche anliegen, wenn deshalb auch kompetenzen sehr unterschiedlich verteilt sind?

wir haben bei „kunst ost“ zu einem ganz pragmatischen arbeitsansatz gefunden. selbst sehr unterschiedlich besetzte felder mit themenstellungen, die allgemein sehr unterschiedlich bewertet werden, können über zwei simple fragen höchstwahrscheinlich zu einem ansatz für
a) nähere verständigung und
b) kooperation kommen.

+) frage #1: haben wir gemeinsame FRAGESTELLUNGEN, die uns gleichermaßen interessieren?
+) frage #2: können wir daraus gemeinsame AUFGABENSTELLUNGEN ableiten, die uns gleichermaßen reizvoll erscheinen und bei denen sich die summe unserer kompetenzen ergänzt?

unsere praxis zeigt: über diese zwei punkte läßt sich auch triviales mit sehr anspruchsvollem verbinden. simples und komplexes haben plötzlich das zeug, geradezu komplementär ineinander zu gehen. das schafft gemeinsamen platz, einen „möglichkeitsraum“ für menschen mit sehr unterschiedlichen neigungen.

zwei augenblicke in unserer kulturellen praxis waren während der letzten wochen anregend für das, worum es nun auch in diesem regionalen projekt zu den „visionen 2050“ gehen mag. den einen moment habe ich in beitrag #2 skizziert. sabine hänsgen („kollektive aktionen“, moskau) zitierte: „wir müssen verfremden, um unsere wahrnehmung zu erneuern.“ und meinte damit eine kulturell gefaßte verfahrensweise unserer kognitiven möglichkeiten, daß wir nämlich „das eigene immer wieder auch über das fremde zu reflektieren“ haben.

dazu paßt eine andere anregung, die sich bei der ersten veranstaltung in der „werkstatt gleisdorf: zeitgeschichte + kultur“ von wolfgang seereiter ergab. nachdem die vernissage verklungen und die musikgruppe nach wien weitergezogen war, fand eine runde zusammen, im sinn des wortes, denn wir saßen im kreis des hellen raumes, um gerade erlebtes zu reflektieren.

die sprachwissenschafterin ursula glaeser, der spache romanes kundig, mit kultur und lebensrealität der roma vertraut (roma service), hatte in der debatte eine exponierte position. es ist ja knifflig, uns quasi in gesamteuropäischer nachbarschaft einer ethnie und kultur anzunähern, die von uns mit so weit in die geschichte zurückreichenden ressentiments, repressionen und klischees getrennt ist.

ursula glaeser und wolfgang seereiter

ich bin bei dieser debatte erneut meine „balkan-erfahrung“ gestoßen. damit meine ich: seit jahrzehnten lese ich viel über den balkan und begleite debatten darüber. seit vielen jahren bin ich mit leuten vom balkan in laufendem kontakt und austausch. wir kooperieren beispielsweise im kulturbereich sehr konkret. ich nehme daher gerne an, die südslawischen ethnien, ihre mentalitäten und eigenheiten seien mir einiugermaßen vertraut.

doch immer wieder erlebe ich dann: ich sehe nicht was ich sehe. ich deute manche momente und situationen völlig falsch. ich sehe gelegentlich nicht, was eigentlich HINTER diesem oder jenem moment steckt.

vielleicht ist es ja so, das diese ethnische vielfalt europas unüberbrückbar bleibt; im sinne dieses trennenden. daß eben vieles, in dem die einen aufgewachsen sind, den anderen verschlossen bleiben muß.

aber eventuell ist genau das die gute nachricht und eine ungaubliche chance, aus solchen kontrasten, aus der beeindruckenden vielfalt der ethnien europas, große vorteile zu ziehen; indem man nämlich das trennende nicht als etwas uns trennendes deutet, sondern als einen kulturellen „schatz“ der verbindet.

und genau das dürfte ebenso auf regionaler ebene zum tragen kommen, denn so viel ist klar: so manche bäuerin der region, so mancher fabriksarbeiter, diese ärztin und jener bürgermeister sind mit in mentalität und vorlieben wesentlich fremder, als nikola dzafo aus petrovaradin oder selman trtovac aus beograd.

ich denke, eine zukunftsweisende arbeit an neuen aufgabenstellungen der regionalentwicklung hat zur voraussetzung, daß es uns gelingt, hierarchische anordnungen kultureller positionen aufzugeben und selbst das lokale wie regionale „WIR“ als eine konvention zu verstehen, als eine kulturelle und politische leistung, welche antwortvielfalt und widerspruch als das verbindende werten.

das klingt vielleicht auf anhieb etwas gewöhnungsbedürftig. ich hab da natürlich leicht reden, weil die befassung mit kunst ohne solche scheinbar widersprüchlichen denkweisen überhaupt keine zugänge aufgehen ließe. mir kommt das also aus den letzten jahrzehnten heraus naheliegend und vertraut vor.

beim ausgangspunkt für eine arbeit an möglichen „visionen 2050“ sehe ich also zwei wichtige „markierungen“, deren kenntnis mutmaßlich eine kulturelle voraussetzung ist, damit solche arbeit gelingen kann:
+) „das eigene immer wieder auch über das fremde zu reflektieren“
+) „ich sehe nicht was ich sehe“

[2050: übersicht]

und dann 2050? #2

ich hab in einer ersten notiz [link] zu „ienergie weiz-gleisdorf“ angemerkt: KOMMUNIKATION scheint mir dabei übehaupt DAS „schlüsselereignis“ zu sein. und daß fragen der idetität immer auch ein umgang mit DIFFERENZ seien. das hat auch sehr grundsätzliche bedeutung für die möglichkeiten unserer wahrnehmung. das sind teile unserer kulturellen fundamente.

von links: mirjana peitler-selakov, vlado macura und sabine hänsgen

in unserem kleinen gespräch auf der donau-terasse von kunstsammler vlado macura zitierte sabine hänsgen („kollektive aktionen“) wiktor schklowski: „wir müssen verfremden, um unsere wahrnehmung zu erneuern.“ wir haben dann kurz erörtert, was das für die gesellschaftliche praxis bedeuten würde. hänsgen: „das eigene nicht als eigenes ständig zu reproduzieren“, woraus sich etwa „bei der herausbildung neuer nationalismen“ probleme ergeben würden, „sondern das eigene immer wieder auch über das fremde zu reflektieren“. [quelle]

verfremden um zu erkennen, sich öffnen, um das eigene zu sichern, an solchen möglichkeiten haben wir zu arbeiten. das ist freilich eine kühne intention gegenüber beispielsweise leuten aus der kommunalpolitik, die ganz offen sagen, ihre primäre pflicht sei es, den vorteil ihrer eigenen gemeinde im auge zu behalten. wir kennen ja auch keine KULTURPOLITIK, die über gemeindegrenzen hinaus eine umfassendere kulturelle situation in einer region meinen oder beschreiben würde.

im august 2010 war mehr als klar, daß ein großteil funktionstragender in den gemeinden, und zwar österreichweit, überhaupt nicht verstanden hat, was an kulturellen agenda zu bearbeiten wäre, welche rollen kunst- und kulturschaffende dabei spielen würden. bei den umfragen des gemeindebundes, in welchen bereichen KÜRZUNGEN akzeptabel erscheinen würden, waren kunst und kultur die absoluten spitzenreiter.

das heißt, 91 prozent der befragten bürgermeisterinnen und bürgermeister, mehr noch, 95 prozent der bevölkerung, fanden, man solle in diesen bereichen kürzen. siehe dazu den eintrag im projekt-logbuch: [link]

diese unstände sind freilich nicht bloß den funktionstragenden vorzuhalten. es fehlt auf der anderen seiten seit jahren an kulturpolitischen maßnahmen und klärenden schritten, mit denen kunst- und kulturschaffende deutlich machen wüden, welche rollen und aufgaben ihnen im gemeinwesen behagen könnten, außer einem selbstbezogenen produzieren von ästhtetik.

das ist natürlich kein statement gegen die autonomie der kunst, sondern für eine klar kommunizierbare KULTURPOLITISCHE haltung. das ist etwas, wo wir im eigenen milieu deutlich mehr trennschärfe brauchen: was sind kategorien der kunst und ihrer freiheit und was sind kompetenzen, die wir aus der befassung muit kunst beziehen, um sie AUCH Im gemeinwesen zur wirkung zu bringen… (siehe dazu auch: wovon handelt kulturpolitik?)

[2050: übersicht]