Kulturpakt III: Wenn aber die anderen schuld sind?

Bevor ich in der Provinz eine Budget- oder Infrastrukturfrage hab, hocke ich auf Inhaltsfragen. Welche INHALTE soll ein regionaler Kulturbetrieb fördern und tragen? Was mag von Ansässigen und von Gästen an rationalen, poetischen, visuellen und hörbaren Inhalten in die lokale/regionale Gesellschaft gebracht werden?

Mit Sabine Hänsgen und Sergej Letov von den Kollektiven Aktionen Moskau auf der Strecke in der oststeirischen Provinz

Will das überhaupt jemand? Geht es um ganz andere Zwecke? Selbst nach über 30 Jahren Wirken der „autonomen Initiativenszene“ dominieren an den meisten Orten, welche inzwischen einen permanenten Kulturbetrieb haben, die Repräsentationsaufgaben.

Damit meine ich vor allem zwei Erscheinungsformen:
+) Kanonisierte Kunstwerke werden gezeigt und die Schau ist Anlaß für ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem die soziale Hierarchie des Ortes vorgeführt wird.
+) Ambitioniert gemachte „kreative Werke“ werden gezeigt und sollen das Sozialprestige der kreativen Personen plus ihres Anhangs heben.

In beiden Fällen nutzt das werte Publikum seine Anwesenheit, um sich selbst als Personenkei oder ganzes Milieu zu repräsentieren.

Das sind zwar nette kulturelle Phänomene, sie haben aber ihr Hauptgewicht in soziokulturellen Agenda. Das heißt, damit sollte eher der Sozialausschuß als der Kulturausschuß einer Gemeinde befaßt sein und die regionale Wirtschaft sollte sich ins Zeug hauen.

Kleines Selbstportrait in einer Arbeit von Sol LeWitt in der Südsteiermark

Weniger moderat ausgedrückt: Viele Funktionstragende geben einen Dreck auf Kunst, schätzen aber allenfalls vorhandene Kulturbudgets als Manövriermasse und Kulturveranstaltungen als Bühne für ihre primären Anliegen; die eben selten welche im Dienste der Gegenwartskunst sind, denn sonst sähe ja das Land ganz anders aus.

Es ist daher vermutlich ganz entscheidend, ob an einem Ort erstens Menschen von lebhaftem Geist sind, die mit ihren Fragen und Inhalten aus den gewohnten Abläufen heraustreten möchten, ob zweitens ihnen Funktionstragende gegenüberstehen, die nicht alle Definitionshoheit für sich beanspruchen.

Anders gesagt: Was lassen die etablierten Funktionseliten zu und wie hartnäckig gehen kreative Menschen allenfalls gegen Restriktionen vor?

Es mag paradox klingen, aber die Budgeteinbrüche, mit denen wir spätestens seit 2010 in neuer Form konfrontiert waren, haben einige Vorteile generiert. Wo die Politik heute kaum noch Gelder zu vergeben hat, mußten manche antiquiert gemusterte Personen in Politik und Verwaltung vertraute Verfügungsgewalt aufgeben.

Das heißt, die Mittelverknappung erzwingt neue Modi, die wir freiwillig schon zehn, fünfzehn Jahre früher hätten erproben können.

Derlei handelt auch von den Fragen nach Intentionen, Rollen und konkreten Handlungsweisen. In den letzten 20 Jahren hat im steirischen Kulturgeschehen auch in der sogenannten „Szene“ eine ungünstige Strategie viel Boden gewonnen: Selbstdefinition durch Feindmarkierung bei weitgehender Vermeidung von Kunstdiskursen.

So befestigt man nicht bloß Lager, die einander letztlich als feindlich empfinden, man vertieft auch die Gräben dazwischen, ohne die es ein Lager ja nicht gibt.

Ich kann mich nicht erinnern, daß es in meinem Milieu eine Debatte ausgelöst hätte, als der Gemeindebund Österreich im Sommer 2010 Umfrageergebnisse veröffentlichte, die den Fragen gewidmet waren, in welchen Bereichen a) Bürgermeister und b) Bevölkerung nun am ehesten Kürzungen akzeptabel fänden. Einmal dürfen Sie raten! Absoluter Spitzenreiter für die Zustimmung zu Kürzungen waren Kunst und Kultur.

Eine konzeptuelle Arbeit von diSTRUKTURA (Beograd) in Gleisdorf

Wir hätten bis heute dagegenhalten können,
a) daß der Anteil des Kulturbudgets am steirischen Landesbudget nicht einmal ZWEI Prozent erreicht,
b) wovon rund DREI VIERTEL in Graz bleiben und
c) wovon der größte Teil an große Institutionen wie Joanneum oder Vereinigte Bühnen geht.
Wer also etwa in der Provinz Kürzungen der Kulturbudgets für hilfreich hält, betreit politisches Karaoke. Eine detaillierte Darstellung dieser Finanzfragen habe ich hier zusammengefaßt: [link]

Was bewegt Kulturschaffende in der Provinz?
+) Es sind kaum öffentliche Gelder zur Kofinanzierung von Vorhaben verfügbar.
+) Es gibt keine dem Landeszentrum vergleichbare Infrastruktur.
+) Das mögliche Publikum ist räumlich weiter verstreut und
+) vieles ist nur erlebbar, wenn man bereit ist, ins Auto zu steigen

Der gravierendste Punkt ist aber sicher, daß heute — wie eh — die Zentren Ressourcen und Talente aus ihrer Peripherie abziehen. Das bedeutet zum Beispiel, vor allem die begabtesten unter den jungen Leuten MÜSSEN zeitig abhauen, um etwa eine adäquate Ausbildung zu erhalten und auf dem Kunstfeld reüssieren zu können.

All das findet seit geraumer Zeit ganz generell vor dem Hintergrund einer neuen Landflucht statt, die nicht bloß Europa bewegt, sondern weltweit stattfindet.

Dieser Status quo wird freilich regional nicht so klar rezipiert. Sehr stark erleben wir dagegen zur Zeit Konfusionen und Widerstände durch Gemeindezusammenlegungen und die Fusionen von LEADER-Regionen. Die Neuordnung der Bezirke ist bei uns in der Oststeiermark schon über die Bühne gegangen.

Sängerin Irina Karamarkovic (Kosovo) und Maler Radenko Milak (Bonsnien und Herzegowina) beim Gleisdorfer Kunstsymposion

Das alles bedeutet im Kern, ich bin nicht bloß mit den banalen Fragen konfrontiert, wie ich im aktuellen Verteilungskampf um Ressourcen unter dem derzeitigen maastrichtkonformen Doppelbudget der Steiermark bestehe.

Wir haben ganz grundsätzlich zu klären, welche Fragen für einen Provinzler überhaupt anstehen, wenn wir uns nicht einfach dem Sog der Zentren ergeben, sondern individuelle Vorstellungen von eigenständiger Regionalentwicklung verfolgen; und wenn wir nicht simpel die Vergangenheit fortschreiben wollen.

P.S.:
Nachdem uns Ende 2010 die Konsequenzen der Lehman- und sonstigen Krisen in der Provinz mit voller Härte erreicht haben, hätten wir uns auf breiterer Basis über die Gefahren von Stagnation und Kompetenzverlust verständigen können. Haben wir aber nicht, weil ja eh „die Anderen“ schuld waren: [link]

— [Generaldokumentation] [Kulturpakt III] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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