Gleisdorf: Betrachtungen #10

Es ist leicht dahingesagt: „Faschismus!“ Aber das Thema verlangt Genauigkeit. Gleisdorf erlebt im Winter 2021 eine Serie von Protestmärschen und Kundgebungen. Im Web, etwa auf Facebook, laufen Debatten. Flugblätter kursieren, Meinungen schwirren.

Umberto Eco anno 2010 in Mailand (Foto: Aubrey, CC BY-SA 1.0)

Ich bin zum Schluß gekommen, daß die Neue Rechte nach fast 40 Jahren angestrengter Bemühungen, in Europa politisch zu reüssieren, derzeit reiche Ernte einfährt. Das fügt sich bisher reibungslos zwischen legitime Anliegen und Beschwerden zum Umgang mit der Pandemie.

Dabei sehe ich, daß nun auch neofaschistische Kräfte bei uns Punkte machen. Wie kann ich das behaupten? Wie läßt sich das feststellen? Ich nutzte dazu die Arbeit von Umberto Eco als wegweisende Hilfestellung. Was er als Merkmale eines „ewigen Faschismus“ formuliert hat, hilft uns, aktuelle politische Phänomene vom historischen Faschismus unterscheiden zu können, ohne diese Wurzeln und Quellen auszublenden.

Sammeln Sie Eco-Punkte?
Es hilft uns auch, die geschönten Posen und Botschaften von Leuten mit verdeckten Intentionen zu dechiffrieren. Damit werden die aktuellen Ereignisse soziokulturell und politisch gut bearbeitbar.

Nehmen Sie es bitte damit genau! Kritik löst sich nicht ein, indem man jemanden beschimpft. Ich will eine konkrete Aussage anfechten? Dann zitiere ich sauber und nenne die Quelle, damit das Zitat nachprüfbar ist. Dem folgt mein konkreter Einwand.

Wenn etwa die pittoreske Frau Fide Veritas in Gleisdorf Programm fährt, untersuche ich ihre Mitteilungen gemäß den Merkmalen von Eco. Auf wie viele „Eco-Punkte“ kann man kommen, um nach diesen sorgfältig ausgearbeiteten Kriterien dem Faschismus zugerechnet zu werden? Probieren Sie es aus!

Wenn Ihnen Englisch liegt, nutzen Sie dafür den Originaltext von Umberto Ecos Vortrag aus dem Jahr 1995. Ich lege hier anschließend eine deutschsprachige Kurzfassung vor.

The New York Review of Books, June 22, 1995.
UR-FASCISM. By Umberto Eco
Eine Quelle (english)

Die Passagen in Klammer sind meine persönlichen Anmerkungen zu den Punkten. Ecos genauere Ausführungen finden Sie im oben verlinkten Dokument.

+) 1.: Traditionalismus (Traditionenkult bis zum Rang einer plüschigen Operette. (Das erspart einen kompetenten Umgang mit der Gegenwart.)

+) 2.: Ablehnung der Moderne, und zwar selektiv. (Ab der Aufklärung ist inhaltlich Sense, aber Nützliches wird akzeptiert, die Technologie wird verehrt.)

+) 3.: Irrationalismus (Behauptungen müssen nicht belegt werden, Glaubensgegenstände gelten ihnen als „Beweise“. Es regiert der „Primat der Tat“: Action geht vor Reflexion.)

+) 4.: Ablehnung der analytischen Kritik (Der Wissenschaft wird prinzipiell mißtraut, die Intellektuellenfeindlichkeit feiert wieder Feste. Das abzulehnen gilt als Verrat.)

+) 5.: Ablehnung von Meinungsvielfalt und Pluralismus, Bewirtschaftung von Fremdenangst. (Wer anderer Meinung ist, wird der Lüge bezichtigt, der Verschwörung, was immer sich zur Abwehr von Antwortvielfalt eignet.)

+) 6.: Individuelle oder soziale Frustration wird ausgenutzt. (Ungerechtigkeiten aller Arten, ein Mangel an Verteilungsgerechtigkeit, politische Inkompetenz, was immer Menschen frustriert, läßt sich zu ihrer Rekrutierung nützen.)

+) 7.: Nationalismus als Rahmen eines „Privilegs des Geburtsortes“. (Dieses junge Konzept, der Nationalismus hat bei uns ja kaum mehr als 200 Jahre drauf, wird als gesellschaftlich konstituierendes System gedeutet, dem Globalisierung etc. aber längst widersprechen.)

+) 8.: Demütigung durch den Reichtum und durch die „Macht der Fremden“. (Vom uralten Antisemitismus bis zur Flüchtlingshatz der Gegenwart eignet sich vieles, diese Stereotypen zu benutzen.)

(Quelle: Facebook)

+) 9.: „Leben ist Kampf, nichts sonst“. (Das plärren mir aktuell verwöhnte Wohlstandskinder ins Ohr, die jetzt, im Winter, keine Woche im Wald oder in den Bergen überleben würden, von der Zutat etwa eines bewaffneten Partisanenkampfes ganz zu schweigen.)

+) 10.: Elitedenken, vor allem auch via „Selbstdefinition durch Feindmarkierung“. (Ich hab schon etliche der Besten des besten Volkes und der besten Rasse kennengelernt. Ich war nicht beeindruckt.)

+) 11.: Erziehung zum Heldentum nach dem Motto „Viva la Muerte!“ = „Es lebe der Tod!“ (Das gehört zum Dümmsten, was einem für seine eigene Spezies einfallen kann und spottet der Natur, generell der Evolution, denn diese Phänomene stehen eindeutig unter dem Motto „Es lebe das Leben!“)

+) 12.: Die Übertragung des Willens zur Macht auf die Sexualität. (…gehört zu den gefährlichsten Aspekten, weil es da andockt, wo in unserer Kultur seit Jahrtausenden auf die menschliche Sexualität ordnend und einschränkend zugegriffen wird, um diese Energien für andere Zwecke nutzbar zu machen.)

+) 13.: Selektiver Populismus. (Das Individuum wird entmündigt, der Menschheit wird generell politische Relevanz abgesprochen, der Führer sortiert, was „das Volk“ sei und wer „würdig“ ist, diesem besonderen Volk zugerechnet zu werden = Volkskörper & Volkszorn = „Wir sind das Volk!“)

+) 14.: Ur-Faschismus spricht „Neusprech“ a la Orwell. (Definitionshoheit und Framing, Euphemismen und Phrasen, das komplette Programm, um Hegemonie zu erreichen. Die Neue Rechte hat in den letzten 40 Jahren dafür hervorragende Arbeit geleistet.)

+) Vorlauf | Fortsetzung
+) Die Betrachtungen im Überblick

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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