Roland Barthes

Mythen des Alltags
Berlin 2010

Der Mythos: die Botschaft der Gottheit. Nein, das ist hier nicht mein Thema. Ich hab vor Jahren das „Kuratorium für triviale Mythen“ formiert. Da geht es um Zusammenhänge, über die wir individuell verfügen; entlang dessen, wovon ich überzeugt bin: jeder Mensch hat spirituelle und kulturelle Bedürfnisse. Die muß man keinen Systemen unterwerfen, sondern kann sie sehr persönlich gestalten, leben, davon erzählen. Das schafft ein Stück autonomer Kultur.

Roland Barthes hat ähnliche Zusammenhänge für die 1950er Jahre untersucht und sehr anschaulich in eine Sammlung von Texten gepackt. Konkrete Beispiele und Reflexion. Bei meiner Auffassung von kulturellem Engagement ist dieses Buch natürlich unverzichtbar, gehört in meine Bibliothek.

Barthes bringt eines meiner Lieblingsthemen zum Klingen: Die Welt als Erzählung. Er macht deutlich, daß der Mythos eine Rede ist. Und: „Da der Mythos eine Rede ist, kann alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht.“

Nicht die Art eines Gegenstandes schafft den Mythos, sondern „die Art, wie er sich äußert“. Es gibt daher zwar formale Grenzen, aber keine substantiellen. Ob denn nun alles Mythos werden könne? Barthes glaubt, daß es so ist. Jeder Gegenstand der Welt kann auf die Art zugänglich gemacht werden. Oder wie ich sagen würde: alles kann (und darf!) erzählt werden.

Das ist für meine Ambitionen natürlich wie maßgeschneidert. Was wird „von der mythischen Rede erbeutet“? Wer verwaltet das? Niemand verwaltet das! Wir alle können das machen. Sie, ich, wer auch immer. Aber ich im Speziellen, hier als Autor, gemäß meiner persönlichen Vorstellung von Wissens- und Kulturarbeit.

Gut, es gibt natürlich eine Ebene der Verwaltung solcher Dinge. (Für alles in unserer Welt findet sich eine Verwaltung.) Die Geisteswissenschaften pflegen Diskurse. Im Feuilleton wird gedeutet und bewertet. In der Politik wird verfügt. Allerhand Agenturen der Definitionsmacht hauen Kommuniqués raus. Aber Sie müssen sich ja nicht danach richten.

Sie können das genausogut ignorieren, während es mich eben fesselt. Barthes: „Der Mythos ist eine Rede. Natürlich ist der Mythos keine beliebige Rede: Die Sprache muß bestimmte Bedingungen erfüllen, um Mythos zu werden…“ Ja, das ist mein Ding!

Diese mythische Rede, das ist mein Erzählen. Genauer: wir erzählen einander die Welt. Man kann es aber auch bei ganz banalen Anwendungen belassen, ohne gleich „Die Welt“ mitnehmen zu müssen. Was Barthes klar machen will, beschreibt er mit einer Reihe von konkreten Beispielen aus seiner Zeit.

Das beginnt beim Catchen (heute sagen wir: Wrestling). Seifenpulver, Marsmenschen und Ehegeschichten. Die Garbo, Beefsteak und Pommes frittes. Striptease, Astrologie, Spielzeug. Und vor allem das mit Sicherheit populärste Stück dieser Textsammlung: „Der neue Citroen“, also die Deesse.

Selbst wer Barthes nie gelesen hat, kennt eventuell diesen speziellen Vergleich, der von Traditionalisten gerne als Provokation gesehen wird: „Ich glaube, daß das Automobil heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist.“

Gut, damit muß man sich heute nimmer zwingend herumschlagen. Als Barthes das schrieb, nämlich Mitte der 1950er Jahre, begann in Europa eben erst die umfassende Volksmotorisierung per Automobil im Privatbesitz. Heute endet sie gerade, auch wenn das gerne ignoriert wird. Nämlich: individuelle Mobilität, gestützt auf den massenhaften Privatbesitz von Kraftfahrzeugen.

Das ist ein derart stark mythisch besetztes Thema, daß ich bezweifle, irgendeine Art Energiewende könnte geschafft werden, ohne diese Mythen des Alltags zu dekonstruieren. Ich finde die Lektüre dieses Buches anregend, um unser 20. Jahrhundert zu entschlüsseln und zu verstehen.

Dabei hat es seinen speziellen Reiz bezüglich jener Erfahrungen, die meine Generation ganz intensiv gemacht hat: Dieses Aufbrechen der alten Dichotomie „Volkskultur/Hochkultur“. Die Beachtung und Wertschätzung der Popularkultur, welche in meinen Kindertagen vielfach als „Schmutz und Schund“ denunziert worden war.

Wir haben in jenem radikalen wie auch kurzen 20. Jahrhundert ein „Bestiarium der Kraft“ entfesselt, zum dem uns aktuell allerhand einfallen sollte, um den Zauberlehrling wenigstens zu bremsen, wenn schon nicht zu stoppen. Da nützt es unter anderem, aktuell zu klären, welche Erzählungen wir über all das verbreitet haben und durch welche Narrative wir diese trivialen Mythen morgen ersetzen könnten.

— [Bücher] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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