Gleisdorf: Betrachtungen #1

Sonja Herbitschek, die ich seit Jahren kenne, postete am Sonntag, dem 5. Dezember 2021 auf Facebook: „‘Wir sind das Volk‘ skandieren Menschen am Gleisdorfer Hauptplatz. Die Impfung mache uns alle zu lebenden Bankomatkarten, das Bargeld wird abgeschafft, wir werden in staatliche Geiselhaft genommen…“ und äußerte ein Bedrohungsgefühl, das ihr in Gleisdorf von Leuten mit ziemlich kühnen Behauptungen beschert werde.

Am Abend davor hatte ich mit Gemeinderat Wolfgang Weber geplaudert. Er erzählte mir von dieser Veranstaltung. Das aktuelle Ereignis, worauf sich Herbitscheks Facebook-Statement bezieht, ist per Youtube-Video dokumentiert. Laufzeit satte 1:36:03, aber da hilft nichts, ich will das nun genauer wissen. Ich bin ja ein Anhänger öffentlicher Diskurse und daß der öffentlich Raum durch leibliche Anwesenheit zu einem politischen Raum werde.

Es ist ein bemerkenswertes Dokument, das mich zu einer ausführlicheren Rezension angeregt hat. Wie ich über Bücher oder Filme schreibe, so eben auch über Events und Happenings. Ich bin diese Ereignisse also durchgegangen und fasse meine Rezension, wie sie auf Facebook in Teilen steht, hier zusammen.

1
„Wir sind das Volk“ skandieren Menschen am Gleisdorfer Hauptplatz.
die sind ja sooo putzig! dieser lauwarme aufguß des guten alten nationalismus, wo einmal mehr das völkische großmäulig daherstapft, sich die ganze arbeit an einem stabilen, landesweiten „wir“ erspart und mit allerhand ungelösten autoritätsproblemen sich für stündchen wichtig macht mit diesem völlig inhaltsleeren „wüüür süüünd dös völk“, diesem nebenprodukt aus der phrasendreschmaschine. ich bin gerührt! hab mir deshalb schon letzte woche das t-shirt naßgeweint.

2
man sei „ein riesengroßes vorbild“, und zwar nichts weniger als „für österreich und deutschland“, höre ich im doku-video eine rednerin sagen, man werde „geschichte schreiben, für österreich und für die welt“, sagt sie. das ist auf zwei arten lustig.

erstens isses eine aufgeblähte pose, in der man die eigene wirkmächtigkeit in einem ausmaß ÜBERschätzt, daß ich sprachlos bin. (aber so ereignet sich eben wichtigtuerei mit schwachen fundamenten.)

zweitens weiß die frau vermutlich nicht einmal, wie sehr dieses statement als botschaft „für österreich und für die welt“ mit dem lied „Es zittern die morschen Knochen“ korrespondiert, wozu auch die angekündigte location heldenplatz in wien vorzüglich paßt.

in diesem nazi-lied heißt es: „Wir werden weiter marschieren / Wenn alles in Scherben fällt / und heute (ge-) hört uns Deutschland / Und morgen die ganze Welt“… tja, kontext und subtext.

3
„einige mutigen menschen haben uns etwas zu berichten.“ thema: „fünf minuten für die mutigen.“ jemand meint, er habe beweise, daß etwa durch die serie der impfungen ein elektronisches bausystem in die körper implementiert werde, das kompatibel sei mit einem 5G- oder 6G-netz. (he, supa! endlich cyborg!)

dazu eine „theologische beweisführung“. er sagt: „des müßt‘s euch vorstellen.“ ein bibelzitat als „beweis“ für eine pharmazeutische innovation? was für eine kuriose vorstellung, wie ein „beweis“ beschaffen sein könne. der mann nennt die offenbarung johannes 13, 16-18. das handelt vom „Malzeichen des Tieres“ [Quelle] (oida! ich nun, als praktizierender heide, bin am arsch, denn ich bleibe ohne tauglichen beweis.)

4
„gott helfe uns!“ sagt ein redner. passend dazu moderator gottfried lagler: „vieles glaubt man nicht, was es alles gibt.“ und: „ach, was machen wir jetzt?“ gute frage! biobauer walter scharler betont: „wir sind alle befreit. wie brauchen alle keine zwänge.“

bliebe zu klären, wie wir in einer massengesellschaft die gemeinschaft ordnen, wie sich rechte und pflichten zueinander verhalten mögen, was wir allenfalls jenen abverlangen, die ihre balance zwischen eigennutz und gemeinwohl zu sehr auf der seite eigennutz betonen. scharler: „wir haben uns untereinander lieb.“ naja, das ist eine sehr trübe kategorie.

5
mit „wir sind stark, weil wir steirer sind“ schöpft lagler freilich auch aus dem werkzeugkasten des nationalismus. was genau konstituiert denn meine geburtsregion steiermark? da braucht man heute, nach den letzten 150 jahren europäischer geschichte, einfach ein bißl mehr genauigkeit.

dann skandiert er: „wir sind stark! wir sind stark! wir sind stark!“ oida! in einer stadt, wo der inzwischen deutlich engefeindete bürgermeister christoph stark heißt, würde ich diesen slogan eher auslassen.

6
lagler bittet „liebe leute, die noch nie was gesagt haben“ auf die bühne. es spricht eine frau über energie, berge und auswerwählt-sein. ich hab nun einen sehr leistungsfähigen verstand, komm aber nicht drauf, wovon sie eigentlich erzählt. dann wirds klar: „eine heilige zeremonie“. und sich „mit der energie der berge verbinden.“ (eine art lawinen-prävention?) schließlich schüttelt sie den kopf: „i waß net, irgendwos wer ma mochn.“ ja, das dachte ich mir schon!

7
da lagler „liebe leute, die noch nie was gesagt haben“ auf die bühne bat, kam… das genie gernot „viele werden mich kennen“ gauper. [Gauper-Glosse] ja, ich weiß, den muß man meist mit vorgehaltener knarre zwingen, daß er was sagt, sonst kriegt der den mund nicht auf. „ich geniere mich fürchterlich über die politik“, meint er. („für“, nicht „über“! aber ich weiß, das ist kleinlich… und: sprache bestimmt unser denken.) er meint, es gebe einen nachweis, daß diese impfung „mord“ sei. (mist! ich hab schon drei davon.)

nebenbei: von mord kann nur dann gesprochen werden, wenn jemand mit tötungsabsicht handelt. was war sonst von gernot „viele werden mich kennen“ gauper zu erfahren. naja, eigentlich… nichts. aber er hätte eh nichts gesagt, wenn nicht, knarre und so… [Gauper-Glosse]

8
der nächste redner begrüßt mit „guten abend weiz!“ auch hier mein rat: man sollte schon ein bißl genauer sein. der mann hat für seine fünf minuten redezeit einen packen papier in der hand, doch er kommt nicht auf den oder irgendeinen punkt. „…müß ma wirklich nach vorne schaun.“

genau! und das wasser ist naß, der himmerl ist blau, der papst ist katholisch. er erzählt von einer weststeirischen gruppe „ein herz für alles“ oder „alle“. das find ich supa! nun kommts: er macht veranstaltungs-werbung für voitsberg. DAS war die botschaft. sonst noch was? nein. nix. ich sehe: nach gernot gauper ist er das zweite genie des abends.

9
dann ein berührendes schluß-statement: „wir kommen wieder!“ sie ahnen, an wen mich das spontan erinnert? an den prominentesten cyborg unserer kulturgeschichte. was sagt der TERMINATOR gelegentlich? den tonfall kennen sie vermutlich. unter einer sonnebrille und einer massiven nase ertönt: „I’ll be back!“

10
was noch? ein bestürzender anruf. der mann, der am folgenden sonntag den nikolaus geben sollte, ist krank geworden. man sucht nun jemanden, der sich „auserkoren sieht“, diese rolle zu übernehmen. da man bei dieser versammlung schon biblische dimensionen und zeichen des himmels beschworen hat, war das womöglich eines, nämlich ein zeichen von höherer instanz?

11
nun wäre noch die quelle zu nennen, auf die sich meine kleine rezension bezieht: [youtube]

Postscriptum
Auf meinem Kontinent zählen unter anderem zwei Prinzipien.
1.: Nennen Sie Ihre Gründe und seien Sie genau!
2.: Wenn es wer besser weiß, machen wir es anders.

Das meint auch: Kritik ist keine, wenn sie ungenau bleibt.
+) Man nennt die Stelle, die man anfechten möchte, und nennt deren Quelle, damit ich nachprüfen kann, was genau da angefochten werden soll.
+) Man sagt seine Gründe und wo von Beweisen die Rede ist, müssen die auf den Tisch, wahlweise eine auffindbare Quelle genannt werden.

Alles andere ist Kolportage und Wichtigtuerei. Daher mein Wunsch: seien Sie brillant! Und geistreich!

+) Die Betrachtungen im Überblick
+) Fortsetzung

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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