Rechtsruck: Boulevard und Nische

In der aktuellen Mediensituation erreicht mich vieles, das meinen Unmut auslöst. Wenn ich aber die Kanäle innerhalb meines vertrauten Milieus halbwegs offen halten möchte, gibt es keine passenden Filter, die man dagegen hochfahren könnte.

Diego Velasquez: Papst Innozenz X (Ausschnitt).

Medienkompetenz heißt daher: die nötigen Filter muß ich in meinem Kopf schaffen. Einer dieser Filter handelt davon, nicht auf jemanden losgehen zu wollen, der oder die mir eben einen schmerzlichen Unfug auf den Bildschirm gewuchtet hat.

Diesen Filter verdanke ich einer simplen Annahme: Niemand hat mich zum Untersuchungsbeamten, Staatsanwalt oder Richter bestellt. Öffentlicher Diskurs ist kein Tribunal. (Ich halte das für eine Frage der Rollenklarheit.)

Was bleibt mir dann, um mich gegen notorische Nervensägen abzugrenzen, da ich sie nicht rundheraus blockieren möchte? So eine Blockade-Tendenz hieße ja, seine eigene Blase zu bauen, in der keine Kontraste oder Differenzen zugelassen sind. Sich selbst informationell einpferchen. Also: Horizont runterfahren? In Sachen Seelenfrieden kein smartes Konzept.

Wie aber kann ich mich auf akzeptable Art abgrenzen, ohne in eine Pose der Verachtung zu rutschen? Es sind bei all dem Fernbefunde sowieso unzulässig. So kann ich jemanden zwar spontan für einen Deppen halten, womöglich für einen verhaltensoriginellen Trottel, aber das sind Privatmythologien, im öffentlichen Diskurs nicht statthaft.

Außerdem würde man auf solche Art einen altbekannten Fehler begehen. Im Streitfall kann ich allemal Argumente zur Sache vorbringen, muß aber Argumente zur Person unterlassen, falls es Richtung Abschätzigkeit tendiert.

Ich hab in den Corona-Jahren Legionen von Nervensägen erlebt, die von Zensur gefaselt haben, weil ihnen Einwände mißfielen, wo sie meinten, Gewalt durch Sprache sei vom Prinzip der Redefreiheit gedeckt.

Es geht also etwa darum, redliche Argumente und Gewalt durch Sprache voneinander unterscheiden zu können. Privat darf ich sowieso alles denken und auch sagen, was mich bewegt. Das wird Face to Face einmal mehr, einmal weniger Konsequenzen haben.

Sobald jemand Massenmedien benutzt, wie ja auch Facebook oder Instagram Massenmedien sind, müssen aber andere Regeln gelten. Hate Speech, wenn das mediengestützt in die Menge geht, kostet früher oder später Menschenleben. Das bedarf keiner Debatte mehr, es ist längst geklärt.

Und nun? Das mit den Grenzen und mit der Abgrenzung? Unter Vermeidung einer menschenverachtenden Haltung? Ich bin vorerst zu dieser Lösung gekommen. Ich unterscheide zwischen Boulevard und Nische. Eine Nische, genauer: meine Nische, hat ein ethisches Konzept als Konstitution. Dagegen sehe ich, daß sich auf dem Boulevard keine Regeln durchsetzen lassen. Auf dem Boulevard regiert letztlich das Faustrecht.

Kein Grund zum Kulturpessimismus. Metrechte ich die letzten 200 Jahre, scheint mir, daß humanitäre Fortschritte nicht vom Boulevard, sondern stets aus Nischen kamen, wo sich Menschen mit einem formulierbaren ethischen Konzept eingerichtet haben. In den Nischen entstand also immer wieder die Kraft, den Lauf der Dinge günstig zu beeinflussen, egal wie sich Massen auf dem Boulevard gebärden.

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Die gefällige Lüge des „Man darf ja nichts mehr sagen!“