über arsch und titten zur schnattergesellschaft

ich hab in meinem logbuch von einem spaziergang durch das verschneite novi sad mit dem literaturwissenschafter radivoj doderovic erzählt: [link] es ging um unsere plauderei über idioten als staats-chefs, wie sie seit mussolini und hitler in europa nicht möglich waren und nun doch. über eine schnatter-gesellschaft ganz im sinne des „arsch und titten-tv“ a la berlusconi. das bedeutet irgendwie: jeder redet überall mit, alles paßt auf eine bühne, man kann ohnehin nicht so genau sagen, was es ist.

literaturwissenschafter radivoj doderovic nach der vernissage von nikola dzafos ausstellung

das war mir zum beispiel kürzlich aufgefallen, als ich eine junge kunsthistorikerin sagen hörte, man könne eh nicht so genau sagen, was kunst sei. sie kann es nicht, weil sie offenbar noch kaum zeit und interesse auf das große thema verwendet hat. an ihrer seite der plüschige maler schwüler nuditäten, dem eine konsequente debatte über kunst bloß etwas „elitäres“ ist, dem er mißtraut. ich verstehe sein mißtrauen, denn wären kriterien zugelassen, er müßte sie auf sein eigenes tun anwenden, was ihn möglicherweise vom kunstfeld kippen könnte.

von einer anderen seite vernahm ich: „wie das die akademische Elite oder der perfide Kunstmarktkapitalismus sieht ist mir schnuppe.“ das diffamieren von leuten, die in der „kopf-arbeit“ tätig sind, hat tradition. ich staune allerdings stets, wenn ich in der kultur-community so ausdrücklich anti-intellektuelle positionen vorfinde. geht es hier bloß um bildungsdünkel? oder ist das schon so ein „berlusconi-effekt“, wonach sich eine art „instant-kultur“ einlösen solle, mit oder ohne „arsch und titten“, die keine mühe bereiten darf, keine entwicklungs- und erfahrungszeit beanspruchen soll, was dann auch gegen reflexion spricht, denn offenbar setzt sich da etwas durch: denken stört.

rasa doderovic hatte mir eben erst ein buch mitgebracht, das zweisprachig vorliegt. was hier in cyrilica zu lesen steht, hat mich überrascht: „Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Karl Franzens-Universität zu Graz vorgelegt von Ivo Andric aus Sarajevo, SHS.“ (der „shs-staat“, also ein „staat der serben, kroaten und slowenen“, war der vorläufer jugoslawiens nach dem ersten weltkrieg.)

Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Karl Franzens-Universität zu Graz vorgelegt von Ivo Andric aus Sarajevo, SHS

ich habe nicht gewußt, daß der diplomat und literaturnobelpreisträger ivo andric in graz studiert hatte. (vermutlich auch so ein repräsentant einer akademischen elite oder sonst wie perfider kulturträger.) die dissertation von andric trägt den titel „Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft“. daß jemand über die mögliche entwicklung eines geistigen lebens nachdenkt, ist offenbar etwas aus der mode gekommen. vielleicht stagniert sie deshalb auch ein wenig, die geistige entwicklung.

ich finde es sehr provokant, daß man sich womöglich noch rechtfertigen sollte, wenn man reflexion schätzt, diskurse pflegt und erwartet, daß jemand seine gründe zu nennen vermag, wenn er dies oder das dahinbehauptet. goebbels würde lächeln. bei den faschisten galt der „primat der tat“ als vorrangig. aggressives handeln war gefordert, nachdenken galt als verdächtig. im wehrmachtsheer, so wurde mir erzählt, genügte es zuweilen schon, eine brille zu tragen, und man konnte als „intelligenzler“ diffamiert, folglich schikaniert werden.

kunsthistorikerin mirjana peitler-selakov und künstler nikola dzafo

mit der gegenwartskunst ist es zur zeit so, daß sie ohne diskurs kaum dingfest gemacht werden kann. das bedeutet nicht, sie könne nur über diskurse erfahren werden. das reich der sinnlichkeit und die regeln der kunst sind zweierlei. was also sinnlich erfahren werden kann und was begrifflich begriffen werden kann, hat jeweils seine ganz eigenen momente.

aber wenn wir darüber reden, über kunst reden, sollten wir wenigstens temporär sagen können, was wir meinen. wenn alles kunst ist, dann ist nichts kunst. wenn jemand über kunst nichts sagen kann, dann kann er eben über kunst nicht reden. das wäre ja keine problematische position. warum also dieses andauernde geschnatter von jenen, die schließlich doch betonen, daß man eigentlich nicht sagen könne, was kunst sei? vielleicht wären sie gut beraten, sich dem reich der sinnlichkeit zu widmen … und öfter eine kunstveranstaltung zu besuchen.

— [was ist kunst?] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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