Es war noch nie so einfach, gekränkt zu sein. So lautete eine Headline zu Philosoph Richard David Precht im „Tagesspiegel“. Der Satz taugt als Bonmot.

Dies ist eine Zeit, in der quer durch den Kontinent Legionen von leicht erregbare Menschen die Bühnen eines Massenmediums betreten haben: Social Media. Davor waren ihre Diskurserfahrungen an Küchentischen geschult, an der Bassena, am Stammtisch. Manche von ihnen rafften sich vielleicht gelegentlich zu einem Leserbrief auf.
Wer in der alten Mediensituation mit Dissens nicht zurechtkam, wurde eventuell auch ausfallend. Doch im kleineren Kreis konnte man mit verhaltensoriginellen Aufdringlichkeiten meist zurechtkommen. Oder es mündet heute noch gelegentlich in innerfamiliäre Gewalt, die nach Kräften hinter verschlossenen Türen verborgen bleibt.
Inzwischen haben wir also via Internet durch unsere junge Info-Sphäre einen neuen Raum für öffentliche Diskurse, in dem es weitgehend keine Türhüter mehr gibt, die redaktionelle Pflichten erfüllen, auf Netiquette achten und tun, was nötig ist, damit sich in den Debatten Faustrecht nicht breit machen kann.
Im Gegenzug schreit heute jeder Depp „Zensur!“, falls seine Pöbelei in einem Projekt oder auf einer einzelnen Website unterbunden wird. Die Netzkultur ist sehr jung. Tim Berners-Lee erstellte am CERN 1991 die erste Startseite im Web: http://info.cern.ch
Anno 2004 ging Facebook online, 2006 erschien mit „twttr“ ein SMS-Format, das sich als „twitter“ etabliert hat, um ab 2023 als „X“ weiterzulaufen. Das heißt vor allem, die Anzahl der Möglichkeiten zu allerhand Interaktionen im Web ist in sehr kurzer Zeit exponentiell nach oben gegangen. Konnten Massengesellschaften in der kurzen Zeit die nötigen Medienkompetenzen erwerben? Sieht nicht so aus.
Wer sich da nun womöglich Tag für Tag exponieren möchte, könnten sich auf Themen konzentrieren, die er oder sie sich wenigstens grundlegend erschlossen hat. Es ginge um einen Basisbestand an fundiertem Wissen über eine Sache, um etwas begründen zu können, nicht bloß herumzubehaupten. Läuft das mehrheitlich so? Sieht nicht so aus.
Wie und womit gestaltet man seine Präsenz als Netizen, als Bewohner der Netze, wenn einen so vieles betroffen macht, über das man keine validen Kenntnisse hat, und worauf man nicht anders als sprachlich reagieren kann? Verkürzte Verfahren! Wie im Teil 1 notiert: Das Ressentiment ersetzt mühelos Sachkenntnis und überprüfbares Wissen.
Wenn man sich noch dazu einen Vorrat an Klischees zulegt, kann man sich für jede Debatte gerüstet fühlen. Das wurde an unzähligen Küchentischen, Bassenas, Stammtischen des Landes geübt, in Leserbriefen praktiziert. Dabei mußte man nicht unbedingt lernen, daß Dissens ein Gewinn sein kann und daß keinerlei Wahrheiten entstehen, indem man einfach Widersprüche eliminiert.

Außerdem erlebe ich selbst mit erkennbar belesenen, kenntnisreichen Leuten, daß sie bei Bedarf auf die Unterscheidung von a) Argumenten zu Sache und b) Argumenten zur Person verzichten. Sie greifen bei Dissens die Person statt die Argumente der Person an. Das sind Tiefschläge, um jemanden aus der Debatte zu kegeln. Psychiaterin Heidi Kastner kommentierte diesen Modus mit der Frage: „Wollen sie diskutieren, oder recht haben?“
Aber wieso rüstet jemand sein Arsenal an Klischees und Ressentiments hoch, um in jede Debatte reingehen zu können, statt sich auf Themen zu konzentrieren, zu denen man Sachkenntnis erworben hat? Einige Gründe mögen im Verlangen nach Sichtbarkeit, nach „Bühnenpräsenz“ liegen, um sich dabei das Erlebnis von Zustimmung und Anerkennung zu holen.
Ein anderer Grund ist wohl fundamentaler. Neurobiologin Leor Zmigrod meint, daß wir nicht ein Gehirn haben, sondern sind. Dazu konstatiert sie: „Das erste Prinzip des menschlichen Bewusstseins ist: Das Gehirn ist ein vorhersagendes Organ. Es lernt von seiner Umwelt und versucht zu erkennen, was als nächstes geschehen wird.“
Um das voranzubringen, „erzeugt das Gehirn ein internes Modell der Welt“. Voilà! Manche werden ihr Modell der Welt eher zur Festung ausbauen, andere als Oase gestalten. Eine Festung läßt sich mit Klischees und Ressentiments sehr gut aufbauen und absichern. Da darf dann kein Stein in der Mauer verrückt werden. Bei einer Oase weiß man nie, wer oder was am nächsten Tag kommt, um die Situation zu verändern.
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