Mars: Netzkultur, Raunen und Sinnsimulation

Wir haben hier bezüglich Wundrakien und Kruschestan das praktische Beispiel der Berührung zweier völlig verschiedener Kulturen im Web. Das ist pluralistische Netzkultur.

Die lebt nach wie vor sehr wesentlich von Schätzen aus der alten Gutenberggalaxis. Das bedeutet, vieles, was da Wirkung zeigt, ist vor allem einmal textgestützt, auch wenn dauernd Bilder, Memes und Videoclips drüberflattern.

Mit den Schätzen aus der alten Gutenberggalaxis meine ich Aspekte von Literarität. Das ist die Fähigkeit, Texte nicht nur lesen, sondern auch verstehen zu können, dabei Subtext und Kontext nicht zu übersehen oder zu ignorieren. Damit das auf passablem Niveau klappt, sind Lesende auf einen schon erworbenen Wissensfundus angewiesen, weil man sonst bezüglich Subtext und Kontext meist nur Bahnhof versteht.

Das heißt, ich brauche Kenntnisse von mehr als nur meinen eigenen Angelegenheiten, um Zwischentöne zu hören und zu verstehen. Das ist mit Subtext gemeint. Und Kontext ist der weiterreichender Zusammenhang, in dem ein Thema stattfindet.

Dazu sollte ich über meinen Tellerrand hinausdenken können. Das funktioniert wohl nur, wenn man schon länger ein Interesse an der Welt hat, andere Bedingungen kennt als nur das, was zuhause vorherrscht, wenn man am Denken anderer Menschen Interesse findet, statt es rundheraus abzulehnen. (Mein Motto: Auch Dissens ist anregend.)

In der alten agrarischen Welt konnte man, wenn zwei Menschen in Streit lagen, etwa diese rhetorische Frage hören, die alles andere als freundlich gemeint ist: „Habt’s ihr überhaupt einen Kirchturm?“ Dem Abkömmling aus einem Kaff ohne eigene Kirche traute man keinerlei Horizont oder tieferes Wissen zu. Durch die Volksmotorisierung ab den 1950er Jahren (daher höhere individuelle Mobilität), durch so manche Bildungsoffensive, schließlich aber auch durch die völlig neue Mediensituation ist das alte Denkmodell „Zentrum/Provinz“ radikal aufgebrochen worden.

Ich kann Reisen, um andere Kulturen zu kennen. Ich kann via Internet weltweit in Bibliotheken und Archiven stöbern, um ein Thema zu recherchieren, meinen Wissensschatz zu vergrößern. So entstehen – laut den Kognitionswissenschaften – in mir sehr viele Schnittstellen, an denen neue Eindrücke andocken können.

Ich muß nicht raunen, flüstern und irgendwas andeuten, um eine Sinnsimulation herzustellen, die den Eindruck erweckt, ich sei ein Wissender. Ich brauche mich bloß der Welt zuwenden und gelegentlich aus Informationen Wissen destillieren. Es gibt in der Neurologie eine interessante Formulierung: „Intellektuelle Bescheidenheit“. Damit ist eine Grundhaltung gemeint, die es zuläßt, sich auch mit Ansichten zu befassen, denen man nicht zustimmt.

Also den Dissens als Gewinn betrachten und sich durch Andersdenkende nicht bedroht fühlen müssen. Man könnte es etwas hemdsärmelig so zusammenfassen: „Niemand ist alleine schlau. Und vielleicht weiß es wer besser.“ Deshalb hänge ich dem Prinzip an: „Begründen statt verkünden!“

Wie läuft das also in Wundrakien und Kruschestan? Ich mißtraue nackten Behauptungen. Nennen Sie Ihre Gründe, wenn geht, auch Ihre Quellen, dann kann ich mich damit seriös auseinandersetzen! Überlassen Sie es doch mir, ob ich Ihnen dann zustimmen kann oder nicht, ohne deshalb böses Blut zu generieren. Geht das?

+) Mars (Eine Debatte über Krieg)
+) Netzkultur