Wenn man eine andere als die eigene Kultur nicht versteht, führt das leicht zu unnötigen Konflikten.

Hier konnte schon geklärt werden, daß in Wundrakien das Spirituelle und die spirituellen Erfahrungen eine vorrangige Bedeutung haben; und zwar gegenüber dem, was man etwa „Commonsense“, „die Wissenschaft“ oder „die Mainstreammedien“ nennt.
Dabei habe ich nun ein paar semantische Probleme, wenn etwa bei Wundrak Begriffe wie „Herzensenergie“ auftauchen oder Sätze wie diese: „Worüber du sprichst, erhält deine Energie – und wird größer und größer. Was du bekämpfst, erhält deine Energie – und wird größer und größer.“
Das gälte in Kurschestan als ein sehr fahrlässiger Umgang mit Worten, denn Energie handelt davon, ob elementare Teilchen Ladung haben oder nicht. Was da in Wundrakien Energie genannt wird, sind emotionale Zustände, psychische Vorgänge und Erfahrungstatsachen. Das ist etwas völlig anderes, von dem man ja alles Mögliche annehmen darf.
Ein Satz wie „Ich schicke dir gute Energie“ ist bloß eine Metapher, denn Gedanken lassen sich bei derzeitigem Wissensstand nicht übertragen. (Es steht Ihnen völlig frei, das Gegenteil zu behaupten, Sie werden mir das aber kaum demonstrieren können.) Ein semantisches Problem handelt davon, daß ein Wort, mit dem etwas bezeichnet wird, als Bezeichnendes eben nur eine semantische Beziehung mit dem Bezeichneten hat, aber das wird oft nicht verstanden.
Ein Beispiel. Das Wort Sessel hat selbst überhaupt nichts „Sesselhaftes“, sondern ist reine Konvention. Wenn sich genug Menschen einig sind, daß man eine bestimmte Sitzgelegenheit mit dem Wort Sessel bezeichnet, nutzt das gelingender Kommunikation. Wir könnten aber auch übereinkommen, ein ganz anderes Wort dafür zu verwenden. (Ich gratuliere, falls Sie das althochdeutsche Wort sezzal richtig identifiziert hätten, ohne den näheren Zusammenhang zu kennen!)
Also was genau möchte mit dem Wort Energie bezeichnet werden? Wundrak macht zwar seine innere Reife durch spirituelle Erfahrungen geltend, aber wenn es ihm gerade nütz, dreht ein wenig schräg an den Dingen. Da war etwa dieser Satz: „Gewendet wirds letztendlich von jedem einzelnen Individuum von innen heraus, wofürs allerdings keine wissenschaftlichen Beweise geben kann.“
Das ist ein kleiner Seitenhieb gegen seine Konkurrenz in Sachen Definitionshoheit, denn es gibt für all dieses Innere nicht bloß „keine wissenschaftlichen Beweise“, sondern überhaupt keine Beweise. Warum ist das so? Erfahrungstatsachen bleiben interne Vorgänge. Auch Wundrak selbst könnte sie mit bestem Willen nicht veräußern. Man vermag Erfahrungstatsachen nur zu erfahren, nicht zu beobachten. (Kein Beweisverfahren verfügbar!)

Wundrak kann freilich mittels symbolischer Kommunikation über seine inneren Vorgänge Auskunft geben. Durch Sprache. Oder Bilder. In seinem Fall wohl auch durch Musik. Es läßt sich also davon erzählen, berichten, aber nichts davon beweisen. Wenn ich von meinen Erfahrungstatsachen spreche, müssen die ja sogar von mir selbst gedeutet werden. (Das semantische Problem: Worte sind nicht das, was sie bezeichnen.) Also Klartext: In diesen Fragen gibt es keinerlei Beweise, sondern nur Interpretationen.
Sie können in meinen unzähligen Notizen und Glossen viele Male genau diesen Hinweis finden: „Ich bin überzeugt, daß ausnahmslos jeder Mensch spirituelle und kulturelle Bedürfnisse hat, die er je nach seinen Erfahrungen und Lebensbedingungen umsetzt.“ Das ist mein Fazit aus fast 50 Jahren Wissens- und Kulturarbeit. Sowas gilt in Kruschestan als vorranging. Worin liegt der mögliche Unterschied zu Wundrakiens Kultur?
In Kruschestan werden beide Reiche im Zusammenhang gesehen und erwähnt, womit ich eine ständige Wechselwirkung behaupte: zwischen dem Innen (Spiritualität) und dem Außen (Kultus). Da sind Dogmen folglich unerwünscht, denn alles, was die menschliche Gemeinschaft betrifft, muß zur Debatte stehen dürfen. Keine Instanz darf sich über die andere erheben.
Eine apodiktische Behauptung wie diese, mit der Wundrak eine Norm definiert (was „normal“ sei), käme in Kruschestan über den Rang einer lächerlichen Behauptung kaum hinaus: „Das bedeutet, dass wir im Normalfall unsere Identität und unseren Selbstwert aus Dingen im Aussen beziehen, auf die letztendlich aufgrund dieser Realität ‚kein Verlass‘ sein kann.“ Er vermischt oder verwechselt, was sich beim Menschen denn überhaupt wo ereignen kann, was nur innen zu geschehen vermag, was sich außen abspielt und wie das korrespondiert.
+) Mars (Eine Debatte über Krieg)