Mars: Spirituelle Quellen

Wer mir menschliche Eigenschaften mit „höheren Wahrheiten” erklärt, die womöglich aus „göttlichen Quellen“ bezogen wurden, erregt mein Mißtrauen grundsätzlich, da Europa damit über zweitausend Jahre hinweg katastrophale Erfahrungen gemacht hat.

Natürlich lassen sich Wildwuchs und strenge Struktur per Definitionsmacht kombinieren.

Ich räume gerne ein, daß man individuelle spirituelle Erfahrungen machen kann, die von Ebenen her inspiriert wurden, über die wir keine Aussagen zu machen vermögen. Selbstverständlich sind wir weit mehr als das Meßbare und das Sagbare.

Aber damit geht es um menschliche Interna, die im Sinne ihrer selbst nicht veräußert werden können. Worte sind Medien. Sie bezeichnen etwas, sind aber nicht das, was sie bezeichnen. Mitteilungen per Sprache bleibt überwiegend auf den Verstand angewiesen, auch wenn etwa ei Kunst unsere Möglichkeiten darin erweitert.

Bliebe die Option, jemanden anzuleiten, auf daß er oder sie selbst spirituelle Erfahrungen macht. Vom kontemplativen Menschen zum Lehrer zu werden, das kann ich mir vorstellen. Das kenne ich auch; wie ich etwa einmal einer betagten buddhistischen Nonne anvertraut war, um mich in Zazen zu üben; allerdings vergeblich, wie sie – milde lächelnd – feststellen mußte.

In vielen Kisten ist erfahrungsgemäß nicht immer das, was draufsteht.

Wenn allerdings der Kontemplative zum Prediger wird, ist größte Skepsis geboten. Weshalb? Der Prediger spricht über etwas Außersprachliches. Was dabei herauskommt, hängt von den Intentionen und der rationalen Ausstattung des Menschen ab, was er mit seiner Emotionalität untermauern mag. Daraus erwächst ungefähr das, was wir uns unter Charisma vorstellen. Wenn aber Menschen über Göttliches sprechen, womöglich predigen, bildet sich sehr leicht etwas, das wir bestens kennen. Sagen Sie mir doch, was folgendes bedeutet: Die Juden, Katholiken, Orthodoxen, Protestanten und Muslime verehren und würdigen denselben Gott. Nicht einen gleichen Gott, sondern ein und denselben, diesen einen Gott.

Haben Sie eine Vorstellung, welche Blutspur Menschen dabei durch rund zwei Jahrtausende gezogen haben? Menschen, die verschiedenen Konfessionen angehört haben, welche allesamt demselben Gott geweiht sind.

Da ist also eine Menge Evidenz, daß wir sehr vielen Menschen zwar bedeutende spirituelle Erfahrungen zutrauen können, doch wenn sie anfangen, darüber zu sprechen, ist höchste Vorsicht geboten. Wie oben erwähnt, nicht einmal jene, die demselben einzigartigen Gott anhängen, die Juden, Katholiken, Orthodoxen, Protestanten und Muslime, möchten einander ausreichende Definitionsmacht zur Exegese einräumen, sondern viele von ihnen schneiden einander ob gravierender Auffassungsunterschiede lieber die Hälse durch.

Daraus möchte sich schließen, daß auf menschliches Urteilsvermögen so ganz allgemein nicht sehr viel Verlaß ist; selbst bei jenen mit tiefen spirituellen Erfahrungen. Oder gerade bei denen. Deshalb schätzen wir seit der griechischen Antike die Skepsis als wichtiges Alarmsystem und den Zweifel als bedeutendes Denkwerkzeug. Na, freilich wird der Spirituelle sagen, solch kritischer Verstand habe keine Macht über seine Quellen der Wahrhaftigkeit. (Wer weiß, welcher seiner Adepten dann den nächsten Hals durchschneiden wird, weil eine kritische Prüfung derer Ansichten nicht zugelassen wurde.)

Deshalb heißt Wissenschaft in Europa auch nicht „Hier bitte, die Wahrheit!“, sondern das Prinzip lautet „Wir irren uns nach oben“. Jede Gewißheit wird mit Skepsis betrachtet und dem Zweifel ausgeliefert. Was dann standhält, gilt als vorläufig anerkannt. Vorläufig! Deshalb ist auch in der Wissenschaft die Idee von „Objektivität“ seit über einem Jahrhundert abgeschafft. Es geht um a) Intersubjektivität und b) um einen laufenden Diskurs, der uns in der Zukunft höchstwahrscheinlich neue Klarheiten bringen wird.

Davon unabhängig ist Europas Geschichte reich an Beispielen, wonach allerhand Spirituelle und Rationale gleichermaßen gerne Hälse durchschneiden, falls man ihnen widerspricht. Dissens ist solchen Konsorten offenbar unerträglich. So bewährt spirituelle Praktiken sind, auf eine „Orthodoxie des Spirituellen“ läßt sich weder setzen noch vertrauen.

+) Mars (Eine Debatte über Krieg)
+) Rechtsruck